14/02/2020
Gezieltes Training gegen Stürze im Alter
Für viele ältere Menschen beginnt nach dem ersten Sturz ein Teufelskreis: Aus Angst vor einem erneuten Fallen bewegen sie sich weniger, werden unsicherer und erhöhen damit noch das Sturzrisiko. Eine negative Spirale, die die Ergotherapeutin Bettina Kuhnert (48) aus Ennepetal mit Hilfe einer speziellen Sturzprophylaxe behandelt.
Bei vielen Senioren löst allein der Gedanke an Treppenstufen bereits Ängste aus.
„Das Schlimmste ist“, so die Ergotherapeutin, die seit Oktober 2011 an der Fabricius Klinik in Remscheid tätig ist, „dass die Menschen ihr Selbstvertrauen verlieren.“ Viele seien nach einem Sturz regelrecht traumatisiert. Eine gezielte Sturzprophylaxe kann das Sturzrisiko aber deutlich mindern.
Die Idee dazu kam Bettina Kuhnert, als sie in einem ambulanten Therapiezentrum vorwiegend mit orthopädischen Patienten arbeitete. Im Rahmen ihrer Tätigkeit musste sie immer wieder Vorträge halten, wie Stürze entstehen, wo die Risiken liegen und wie man ihnen vorbeugen kann. Dieses Wissen setzte sie bei der Behandlung ihrer Patienten gezielt ein und versuchte, schon während der Befundaufnahme herauszufinden, wo die individuellen Schwachstellen lagen.
Gefahren erkennen und vermeiden
Gefahren erkennen und vermeiden lautet heute das Motto ihrer ergotherapeutischen Sturzprophylaxe. Sie eignet sich für alle Patienten jenseits der 65, bei denen sich aufgrund eines Sturzes, eines Unfalls, einer Krankheit oder einer Seh- und Hörschwäche die Mobilität verändert hat.
Muskelmenge, Kraft und die Koordination werden bei allen älteren Menschen abgebaut. Wichtig bei der Suche nach den persönlichen Sturzursachen kann jedes kleinste Detail sein. So fragt Bettina Kuhnert nach allen Einzelheiten: Wie sieht das persönliche Umfeld des Betreffenden aus? Was tut er im Haushalt, im Beruf oder in seiner Freizeit? Und welche Ressourcen bringt er mit? Welchen Rückhalt hat er in der eigenen Familie?
Oftmals sind es nämlich nicht nur die körperlichen Defizite, die zu Stürzen führen, sondern das sogenannte Kopfkino: Dazu genügt schon die Angst nach einem Beinahe-Unfall, auch wenn dabei nichts passiert ist. „Ich muss herausfinden, welche Situation oder welcher Ort angstauslösend war“, erklärt die erfahrene Therapeutin, „und dies mit meinem Patienten besprechen. Denn nur eine zielgerichtete Behandlung führt zum Erfolg.“
Körperwahrnehmung trainieren
Bei vielen löst z. B. allein der Gedanke an Treppenstufen bereits Ängste aus. Und diese Befürchtungen müssen in der Therapie berücksichtigt werden. Daher darf nicht nur die Motorik und das Gleichgewicht trainiert werden, sondern vor allem die eigene Körperwahrnehmung des Patienten. „Vielen ist nicht mehr bewusst, auf welche Art sie gehen. Oder sie spüren ihre Füße nicht mehr richtig“, so die Fachtherapeutin für kognitives Training. Abhilfe schaffen hier Gewichte an den Sprunggelenken oder auf den Füßen, um die Fußsohlen auf dem Boden zu spüren. Oder das Blindtraining: „Der Patient muss die Augen schließen und mir sagen, an welchem Teil des Körpers ich ihn berührt habe.“
Vertrauen aufbauen
Erst wenn das Vertrauen zwischen Therapeut und Patient aufgebaut ist, kann mit dem schrittweisen Abbau der Angst begonnen werden. „Wichtig dabei ist“, so Bettina Kuhnert, „nie die Angstschwelle wieder auszulösen.“ Hier ist Fingerspitzengefühl gefragt, viel Empathie und ein Händchen für ältere Menschen. Oftmals sind Senioren eher unflexibel und in bestimmten Bahnen gefangen. Eine Änderung ihrer alten Verhaltensweisen erfordert ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen.
Hilfreich für den Therapeuten sind dabei neben orthopädischen und neurologischen Kenntnissen auch Erfahrungen in der Geriatrie und in der Psychiatrie, u. a. auch für das Erkennen depressiver Verstimmungen. In allen diesen Bereichen hat die Ergotherapeutin, die 1995 ihren Abschluss machte, bereits Erfahrungen gesammelt. Eine spezielle Fortbildung hat Bettina Kuhnert aufgrund ihrer Berufserfahrung an verschiedenen Arbeitsstellen nicht machen müssen. Aber sie empfiehlt Kollegen, die sich auf diesem Gebiet spezialisieren wollen, eine Weiterbildung in Gleichgewichtstraining zu absolvieren und Ratgeber zur Sturzprophylaxe zu lesen, um sich daraus ein eigenes Konzept zu erarbeiten.
Ängste abbauen
Nur in kleinen Schritten lassen sich die Ängste abbauen. So werden Menschen mit Angst vorm Treppensteigen zunächst am Arm nur bis zur Treppe geleitet. Später werden die ersten Treppenstufen zunächst in Begleitung und dann ganz ohne Berührung erklommen. Erst ständige Wiederholungen bringen die Routine, wecken wieder das Vertrauen in den eigenen Körper. „Ich bin immer wieder erstaunt, wie mutig die Senioren wieder werden“, freut sich die erfahrene Therapeutin über ihre Behandlungserfolge. „Manche schaffen es dann sogar, innerhalb der Therapie unter Aufsicht mit geschlossenen Augen zu gehen.“