08/05/2020
So wichtig!
Laufen an der Hand – nützlich oder schädlich?
Letztes Jahr habe ich einen viel beachteten Artikel geschrieben, in dem ich erkläre, warum es nicht empfehlenswert ist, Babys hinzusetzen, bevor sie sich selbst aufsetzen können ( https://www.facebook.com/physiomattes/posts/1875614065880986 ).
Das gleiche Prinzip gilt für das Gehen. Überall sieht man Babys oder Kleinkinder, die von Eltern oder Großeltern an den Händen geführt werden, lange bevor sie frei gehen können. Das ist sehr verbreitet – aber trotzdem ungünstig für den Bewegungsapparat und die motorische sowie psychische Entwicklung des Kindes (Hier mein Onlinekurs zum Thema Entwicklung: https://www.kathrinmattes.com ).
Gehen muss man mit einem Baby nicht üben, denn diese Fähigkeit ist genau wie alle anderen Meilensteine als motorisches Programm fest in seinem Gehirn verankert. Das bedeutet, ein gesundes Kind lernt es ganz von selbst, genau wie beispielsweise das Krabbeln, das man ja auch nicht mit ihm übt. Das Gehirn weiß einfach von alleine, was als nächstes kommt.
Ein Kind, das an der Hand läuft, lernt definitiv nicht schneller frei zu gehen als andere. Und es schafft es dadurch auch nicht besser oder leichter. Im Gegenteil, der Bewegungsablauf ist ein völlig anderer und daher nicht hilfreich, sondern sogar hinderlich. Ich habe Kinder erlebt, die ein halbes Jahr an der Hand gelaufen sind, bevor sie endlich frei gehen konnten. U.U. ist also sogar von einem Verzögerungseffekt auszugehen, wie er teilweise für Lauflernhilfen (Gehfrei/Laufwagerl/Babywalker) bereits wissenschaftlich bewiesen ist.
Lernt ein Kind ohne Hilfe von außen, frei zu stehen und schließlich zu gehen, hält es sein Gleichgewicht über die muskuläre Stabilisation seiner Füße, Beine und seines Rumpfes. Das ist eine sehr komplexe Fähigkeit, die sich über mehrere Monate entwickelt. Erst übt es das Gehen seitwärts mit beidhändigem Festhalten, dann einhändig und erst viel später vorwärts und freihändig, wenn die muskuläre Stabilisation über Füße, Beine und Rumpf schließlich zuverlässig gelingt.
Beim geführten Gehen dagegen holt sich das Kind seine Stabilität über die Hände und Arme. Es ist kaum Rumpfstabilität notwendig und keinerlei Gleichgewichtsgefühl. Häufig gehen die Kinder so mit überstreckter Wirbelsäule und auf Zehenspitzen, vor allem, wenn die helfenden Hände hoch oben gehalten werden – aber oft auch, wenn sie weiter unten in bequemer Höhe oder unter den Achseln sind. Die Kinder versuchen die mangelnde Rumpfstabilität über eine Anspannung des gesamten Körpers zu kompensieren und lernen so einen völlig falschen Bewegungsablauf. Für das freie Gehen muss dann wieder umgelernt werden, sodass das Führen an den Händen wirklich keinerlei Nutzen bietet.
Auch wenn man das Kind nur an einer Hand hält statt an beiden, wie es häufig als Alternative vorgeschlagen wird, ist das nicht besser. Das Kind braucht dann zwar etwas mehr Gleichgewichtsgefühl als bei beidhändiger Führung, die Muskelaktivitäten sind aber immer noch andere als beim freien Gehen.
Werfen wir außerdem einmal einen Blick auf die psychischen Vorgänge: Ein Kind, das ganz alleine vom Stehen mit Festhalten zum freien Stehen, Seitwärtsgehen an Möbeln und schließlich zum freien Gehen kommt, ist unglaublich stolz und begeistert, dass es das ganz alleine geschafft hat.
Ein Kind, das an den Händen geführt wird, kann durchaus auch begeistert sein von dieser neuen Erfahrung, jedoch fehlt das Bewusstsein, es selbst geschafft zu haben. Um das Hochgefühl beim Gehen zu erreichen, ist es jedes Mal auf die Unterstützung seiner Bezugspersonen angewiesen und damit völlig abhängig von ihnen, genau wie auch beim passiven Hinsetzen.
Lässt man ein Kind seine Meilensteine dagegen selbst erreichen, hat das über die Erfahrung der Selbstwirksamkeit („Das hab ich ganz alleine geschafft!“) einen sehr positiven Einfluss auf die Entwicklung des Selbstwertgefühls. PädagogInnen und PsychologInnen wissen das und können es auf Nachfrage auch umfassender erklären als ich 😉
Wenn man erst einmal damit begonnen hat, fordern viele Kinder das Gehen an der Hand wieder und wieder ein. Einige werden regelrecht süchtig danach und protestieren heftig, wenn man ihrer Forderung nicht nachgibt. Das führt nicht nur häufig zu Rückenschmerzen bei den Erwachsenen ;) , sondern auch dazu, dass das Kind viel Zeit mit dem Laufen an der Hand verbringt, statt diese sinnvoll zur Weiterentwicklung seiner eigenen Fähigkeiten zu nutzen, indem es zB Bewegungsübergänge perfektioniert, den Pinzettengriff übt, Neues ausprobiert usw.
Fazit: Ein Kind kann sehr gut ohne Hilfe gehen lernen. Auch wenn es für Eltern und Großeltern nicht immer einfach ist, der Versuchung zu widerstehen - bitte nicht an den Händen nehmen! Der stolze und ungläubige Blick bei den ersten freien Schritten entschädigt tausendfach dafür :) Wenn ein Kind bereit zum Laufen ist, wird es laufen. Manchmal kommt das freie Gehen längerer Strecken bereits kurz nach den ersten Schritten, manchmal erst Monate danach. Manche Kinder laufen bereits mit 9 Monaten, andere erst mit 18 Monaten (ab hier sollte man spätestens abklären lassen, ob Behandlungsbedarf besteht).
Natürlich erleidet kein motorisch gesundes Kind schwerwiegende, irreparable Schäden, wenn es an den Händen geführt wird. Aber es hat auch keinen einzigen Vorteil dadurch, sondern nur die oben genannten Nachteile. Manche Babys verkraften alle gut gemeinten Eingriffe in ihre natürliche Bewegungsentwicklung relativ problemlos, bei anderen bringt man die Entwicklung damit nachhaltig durcheinander (Häufiges Beispiel: Sitzrutschen und fehlendes Krabbeln bei passiv hingesetzten Kindern).
Wenn du also sagst „Meinem Kind hat es aber nicht geschadet!“, dann ist das einfach nur Glück (oder es stimmt gar nicht, wie bei so vielen Dingen, die mit dem unsäglichen „Uns hat es doch auch nicht geschadet“ kommentiert werden). Leider weiß man im Voraus nicht, zu welcher Gruppe das eigene Baby gehören wird, daher empfiehlt sich der generelle Verzicht auf das Vorwegnehmen von Entwicklungsschritten. Unsere Babys schaffen das auch alleine!
Wenn man das alles einsieht, das Umfeld jedoch nicht (wie es ja häufig der Fall ist): Man darf als Mama oder Papa auch ruhig einfach bestimmen, dass niemand das eigene Kind an der Hand führen darf. Das stößt zwar oft auf Unverständnis und man erntet verwunderte bis beleidigte Reaktionen – aber ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass man das überlebt und daran wächst. Es werden noch hunderte solcher Situationen kommen, in denen man wohlmeinenden Außenstehenden erklären darf, dass man selbst ganz gut weiß, was das Beste fürs eigene Kind ist ;) So kann man das schon mal üben.
(Hier verlinken geht auch, ganz subtil.)
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Onlineberatung:
Wenn du Fragen hast oder Tipps brauchst, zB die Entwicklung deines Kindes betreffend, ist die Onlineberatung über Videomeetings vielleicht eine Option für dich: https://www.kathrinmattes.com/online-beratung
Rückbildung:
Mein aktueller Kurs findet aufgrund der Krise erstmals online statt und ist bereits ausgebucht. Wahrscheinlich wird es im Sommer einen weiteren Onlinekurs geben, Details dazu folgen noch. Ob es im Herbst wieder wie gewohnt (offline) an der VHS Strasshof weitergeht, wird sich wahrscheinlich erst kurz davor herausstellen. Die Anmeldung fürs die Kurse ab Anfang Oktober und Ende November sind i.d.R. ab 1. September geöffnet.
Physiotherapeutische Geburtsvorbereitung:
Auch dieser Kurs wird evtl. bald online stattfinden. Melde dich bei Interesse! Es geht um Arbeit mit Körper und Bewegung während Schwangerschaft und Geburt:
https://www.physiomattes.at/geburtsvorbereitungskurse
Onlinekurse:
Ein Durchgang meiner bereits bewährten Onlinekurse („Ermögliche deinem Kind eine optimale Entwicklung!“, „Wie bleiben Kinderfüße gesund und was zeichnet gute Schuhe aus?“) ist gerade erst zu Ende gegangen. Bis zum nächsten Mal wird es noch einige Monate dauern, aber du kannst dir schon mal alle Infos durchlesen oder meinen Newsletter abonnieren, um den Start der Anmeldefrist nicht zu verpassen 😊 https://www.kathrinmattes.com
Ich freu mich, wenn ihr mir auch auf Instagram folgt :)
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