31/10/2025
Die Sage vom Holzmichel
Kinder des Nebels,
lauscht in dieser Stunde, da der Wind durch die Bäume streicht und das Holz im Feuer knackt wie alte Stimmen. Es ist die Stunde, in der die Wälder erzählen, von jenen, die vor uns kamen, und von jenen, die noch wachen zwischen Moos und Wurzel.
Eine solche Geschichte will ich euch heute schenken, die Geschichte vom Holzmichel, dem guten Geist des Waldes, der half, wo Demut war, und strafte, wo Gier den Blick verdunkelte.
In alten Tagen, als die Menschen noch Holz holten, um ihr Heim zu wärmen und nicht aus Gier nach Gold, lebte in den dunklen Tannen des Bayerwaldes ein Mann namens Michel Haderlump.
Er war ein Holzfäller, wie viele andere, stark wie eine Eiche, doch in seinem Herzen wohnte kein Friede.
Denn Michel nahm mehr, als er brauchte.
Er schlug die jungen Bäume, raubte selbst das dürre Holz der Wege und lachte über die Worte der Alten, die sprachen:
„Gib dem Wald, was du nimmst, sonst nimmt er dich.“
Eines Tages aber, als der Himmel grau war und Nebel durch die Stämme kroch, fiel Michel wieder einen Baum – doch als die Klinge sein Holz traf, hörte er ein leises Stöhnen, wie von einem Lebewesen.
Er hielt inne.
Vor ihm stand ein kleiner, bärtiger Mann, kaum so groß wie ein Kind, mit Moos im Haar und Rinde um den Leib. Seine Augen aber waren klar wie Tautropfen, und seine Stimme klang wie das Rauschen eines Baches:
„Michel,“ sprach er, „du nimmst, und du gibst nicht. Du schlägst, und du hörst nicht. Weißt du, wem du das Leben raubst?“
Michel fuhr zurück.
„Ein Baum ist nur Holz!“, rief er trotzig.
Da seufzte der kleine Mann.
„Dann will ich dich lehren, was Holz bedeutet.“
Mit diesen Worten berührte er Michels Axt und im selben Augenblick verging die Welt um den Holzfäller. Er fühlte seine Glieder schwer werden, seine Haut erstarren, sein Herz pochen wie in einer fernen Trommel.
Als er die Augen öffnete, stand er selbst, verholzt, verwurzelt im Boden, mit Ästen statt Armen, Blättern statt Haar.
So stand er im Wald, Tag und Nacht, Jahr um Jahr.
Die Tiere nisteten in seinen Zweigen, der Schnee legte sich auf ihn, der Wind sang ihm Lieder.
Und langsam, ganz langsam, lernte Michel zu hören.
Er hörte das Wispern der Bäume, das Seufzen der Erde, das Lied des Regens.
Und eines Tages, als der Frühling kam, sprach die Stimme erneut:
„Nun weißt du, Holzmichel, was Leben ist. Du hast gegeben, was du nahmst und der Wald hat dir vergeben.“
Da lösten sich seine Wurzeln, das Holz wich von seiner Haut, und Michel stand wieder als Mensch da.
Er weinte, denn er hatte verstanden.
Von diesem Tage an mied er die jungen Bäume, pflegte den kranken Wald, legte Moos auf Wunden und schützte die Tiere.
Und wenn man ihn fragte, woher er seine Kraft nahm, so sprach er nur:
„Vom Wald, denn er gab mir das Leben, als ich das meine verlor.“
Nach seinem Tod, so erzählen die Alten, blieb sein Geist im Wald.
Und wer heute bei Sturm den Wind durch die Äste rauschen hört, der glaubt manchmal, eine Stimme zu vernehmen, die ruft:
„I leb no! I leb no!“
Und das, meine Kinder des Nebels, ist kein Scherz,
denn der Holzmichel lebt in jedem Baum, den du ehrst, in jedem Samen, den du pflanzt,
und in jedem stillen Moment, da du dankbar bist für das, was wächst.
Vergesst nie, Kinder des Nebels:
Der Wald ist kein Ort, er ist ein Wesen.
Er atmet, er fühlt, er heilt und er vergibt.
Wer ihn ehrt, dem steht er bei.
Wer ihn missachtet, der hört sein Schweigen und in diesem Schweigen liegt die größte Lehre.
Mögen die Gottheiten stets über euch wachen!