27/09/2025
🌿 Praxisgespräche – Wenn der Schmerz nicht aufhört - Auflösung von transgenerationalen Traumata
Aufstellung als Friedensarbeit - Teil 4
Traumata und ungelöste Konflikte wandern oft unbemerkt von Generation zu Generation. Systemische Aufstellungsarbeit macht diese verborgenen Dynamiken sichtbar und eröffnet einen Raum, in dem Impulse zur Heilung angeregt werden – nicht nur individuell, sondern auch kollektiv, etwa nach Krieg, Flucht oder Vertreibung.
Petra hat Körperschmerzen – Schmerzen, die sie schon sehr lange begleiten vor allem im Unterleib. Die Diagnose Endometriose. Sie hatte Operationen, nimmt Schmerzmittel, wenn es nicht anders geht, und hat gelernt, sehr achtsam mit sich umzugehen. Jetzt möchte sie einen Schritt weitergehen und den Schmerz auf systemischer Ebene anschauen.
✨Die Aufstellung
Sie stellt auf: Sich, den Schmerz, ihre Mutter und ihren Vater
Das Bild:
Sie steht in der Mitte und möchte sich gerne bewegen, aber der Schmerz stellt sich immer wieder vor sie, als ob er sie schützen will. Die Mutter ist abgewandt, will nicht hinschauen, der Vater steht etwas verloren da und sagt: „Ich hätte ja gerne Kontakt, aber hier habe ich keinen Chance.“
Petra erzählt von ihrer Familie:
Die Mutter ihrer Mutter – ihre Großmutter – war immer sehr vorsichtig, ständig von einer leisen Angst begleitet. Sie mahnte ihre Tochter und auch Petra immer wieder, nicht zu vertrauensselig zu sein.
Von der Ur-Großmutter berichtet Petra, dass sie eine bemerkenswert starke Frau gewesen sei – sie hatte den Krieg überstanden, Schreckliches erlebt und dennoch tatkräftig am Wiederaufbau mitgewirkt. Für ihre Zeit war sie sehr emanzipiert, voller Tatkraft.
Der Ur-Großvater hingegen war schweigsam. Über ihn gibt es kaum Geschichten – er hat nie viel gesprochen.
Ich schlage vor, auch die Großmutter, die Ur-Großmutter und den Ur-Großvater mit in die Aufstellung zu nehmen.
✨Die Dynamik:
Der Ur-Großvater schaut in die Richtung, in die die Mutter schaut, spürt eine tiefsitzende Kälte und fühlt sich emotional abgespalten. Die Ur-Großmutter ist ständig unterwegs – sie kommt nicht zur Ruhe. Die Großmutter setzt sich, wie ein kleines Kind, auf den Boden und wippt hin und her, wie in Trance. Der Schmerz wird größer, ist jetzt mit dem Blick nur auf die Großmutter fokussiert, steht aber immer noch vor Petra, die wenig Bewegungsspielraum hat.
Wir stellen das „Trauma“ dazu. Es geht direkt auf den Ur-Großvater zu.
Er beginnt zu zittern, hält sich am Trauma fest – und plötzlich kann er sich der Ur-Großmutter zuwenden. Sie sieht ihn an, Tränen in den Augen.
Die Großmutter schlägt mit den Händen auf den Boden und wiederholt: „Ich halte das nicht mehr aus!“
✨Die Wendung
Ich lasse dem Feld ganz viel Raum, um in die Bewegung zu kommen, die sich von selbst entwickeln mag.
Der Schmerz löst sich von Petra und geht zur Ur-Großmutter. Diese kann ihn kaum anschauen, hält sich den Bauch und sagt, dass sie das niemals mehr hatte spüren wollen. Der Ur-Großvater bricht in Tränen aus und sagt: „Es tut mir so unendlich leid – ich konnte dich davor nicht schützen.“
Und plötzlich ist es, als würde ein Schleier von der Geschichte gehoben.
Unausgesprochen wird klar, was damals geschah – was Millionen von Frauen im Krieg erlebten...
Die Ur-Großmutter beginnt zu weinen.
Der Ur-Großvater nimmt sie in den Arm.
Auch die Großmutter darf zu ihnen kommen, sie ist nicht mehr allein. Auch sie kann jetzt Kontakt zu ihrer Tochter aufnehmen. Die Mutter lehnt sich an ihre Mutter an – eine tiefe Entspannung geht durch die Reihe der Ahn*innen. Die Mutter schaut auf und wendet sich Petra zu.
Zum ersten Mal. Petra atmet tief und lehnt sich an ihre weiblichen Vorfahren an.
Der Schmerz zieht sich zurück und sagt: „Wann immer du mich brauchst – ich bin da, aber lieber wäre ich etwas anderes. Es ist noch nicht ganz da, aber es spürt sich an, wie eine neue Lebendigkeit und eine enorme Kraft.“
✨Heilung, die weiterreicht
Es ist still. Eine dichte, ehrfürchtige Stille.
Alle im Raum sind tief bewegt – nicht nur von Petras Geschichte, sondern von dem, was sie in sich trägt: ein Stück kollektiver Erinnerung, die uns alle betrifft – Frauen wie Männer.
In dieser Aufstellung durfte Frieden einkehren.
Nicht nur für Petra, sondern auch für ihre Mutter, ihre Großmutter, ihre Ur-Großmutter – und vielleicht für viele Frauen, die Ähnliches erlebt haben.
Gleichzeitig wird sichtbar, wie sehr auch die Männer gelitten haben.
Wie schwer es war, ertragen zu müssen, dass sie ihre Frauen nicht schützen konnten.
✨Krieg trennt uns von unserem tiefsten, ur-menschlichen Instinkt der Verbundenheit.
Er reißt uns heraus aus dem Gefühl der Zugehörigkeit, schneidet uns ab von uns selbst, von unseren Emotionen, von unserer Mitmenschlichkeit.
Die Wunden, die er schlägt, reichen weit – sie wirken über Generationen fort und hinterlassen Spuren in Kindern, Enkeln und Urenkeln.
Systemische Aufstellungsarbeit kann diese unsichtbaren Fäden sichtbar machen – und einen Raum öffnen, in dem Heilung geschehen darf. Auch bei Petra – die Schmerzen verschwanden langsam. Dadurch, dass sich das Feld für dieses Thema geöffnet hatte, konnte sie das erste Mal ihre eigenen Verletzungen des Weiblichen ansehen und integrieren.
🔒 Hinweis zum Datenschutz: Mir ist Vertraulichkeit sehr wichtig. Die Impulse für diese Geschichten, die ich erzähle, stammen von Erfahrungen aus Aufstellungsprozessen – sie sind jedoch verfremdet und anonymisiert, sodass keine Rückschlüsse auf einzelne Personen möglich sind.
✨ Wenn du die Aufstellungsarbeit einmal selbst kennenlernen möchtest:
Melde dich gerne als Repräsentant*in an 👉 https://www.ifare.at/seminare/
🌿 www.ifare.at
Sabine Griesebner