08/08/2025
Die Drei Schätze – Jing, Qi und Shen
In der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) stellen Jing, Qi und Shen die drei fundamentalen Substanzen dar, die das Leben eines Menschen ermöglichen, formen und durchdringen. Sie werden als „San Bao“ (三宝) bezeichnet – die Drei Schätze – und bilden das Grundgerüst sowohl der körperlichen als auch der geistig-seelischen Existenz.
1. Jing (Essenz, 精)
Jing bezeichnet die „Essenz“ des Lebens. Sie ist die grundlegendste und dichteste der drei Schätze. Jing existiert in zwei Formen:
• Vorgeburtliches Jing (Xian Tian Zhi Jing, 先天之精):
Dieses wird von den Eltern vererbt und bildet das konstitutionelle Fundament eines Menschen. Es sitzt primär in den Nieren und bestimmt Vitalität, Wachstum, Reifung, Fortpflanzung und Lebensdauer.
• Nachgeburtliches Jing (Hou Tian Zhi Jing, 后天之精):
Dieses entsteht durch die Umwandlung von Nahrung und Atmung (über Milz und Lunge) und nährt das vorgeburtliche Jing. Es ist damit dynamisch und beeinflussbar.
Funktionen
• Steuerung von Wachstum, Entwicklung, Fortpflanzung und Altern
• Grundlage für die Produktion von Knochenmark, Rückenmark und Gehirn („Meer des Marks“)
• Träger der reproduktiven Kraft (z. B. Menstruationszyklus, Samenproduktion)
• Bestimmt Konstitution und Widerstandskraft
Klinische Relevanz
Ein Mangel an Jing äussert sich in:
• Entwicklungsstörungen bei Kindern (spätes Zahnen, verzögertes Gehen oder Sprechen)
• Unfruchtbarkeit, Impotenz, Libidoverlust
• Frühzeitiges Altern, Haarausfall, Osteoporose
• Gedächtnisverlust, geistige Erschöpfung (Verbindung zum Gehirn)
Stärkung des Jing erfolgt durch:
• Jing-tonisierende Kräuter: z. B. Shu Di Huang, He Shou Wu, Gou Qi Zi, Tu Si Zi
• Schonung der Essenz durch Lebensführung (regelmässiger Schlaf, Vermeidung von Überarbeitung und übermässigem Sexualverhalten)
2. Qi (Lebensenergie, 气)
Qi ist die dynamische, bewegende Kraft, die alle physiologischen Funktionen ermöglicht. Es ist unsichtbar, aber spürbar – z. B. in Form von Wärme, Bewegung, Vitalität oder Emotion.
Qi entsteht hauptsächlich aus:
• Luft (über die Lunge)
• Nahrung (über Milz/Magen)
• Sonnenlicht (kosmische Strahlung)
• Wird unterstützt durch Jing
Arten von Qi
• Yuan Qi (Ursprungs-Qi):
Wird aus Jing abgeleitet und durch das nachgeburtliche Qi genährt – wirkt als Grundlage aller organischen Aktivitäten.
• Zong Qi (Brust-Qi):
Entsteht in der Brust aus Luft und Nahrung – nährt Herz und Lunge, steuert Atmung und Sprache.
• Ying Qi (Nähr-Qi):
Zirkuliert in den Leitbahnen und nährt Organe und Gewebe.
• Wei Qi (Abwehr-Qi):
Zirkuliert ausserhalb der Gefäße – schützt den Körper gegen äussere Pathogene, wärmt den Körper.
Funktionen
• Bewegung (z. B. Zirkulation von Blut, Flüssigkeiten, Atmung, Peristaltik)
• Transformation (z. B. Verdauung, Umwandlung von Nahrung in Blut, Jing, Qi)
• Halten (z. B. Organe an ihrem Platz, Blut in den Gefässen, Urin/Stuhl zurückhalten)
• Schutz (Abwehr-Qi gegen äußere Einflüsse)
• Wärme (thermoregulierende Funktion)
Klinische Relevanz
Qi-Mangel führt zu:
• Müdigkeit, Kurzatmigkeit, Schwäche, Spontanschweiss
• Immunschwäche, chronische Infekte
• Prolaps, Inkontinenz, Blutungen
Therapie:
• Qi-tonisierende Kräuter: Ren Shen, Dang Shen, Huang Qi, Bai Zhu
• Qigong, Yoga, Atemübungen, gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf
3. Shen (Geist, 神)
Shen steht für den Geist, das Bewusstsein, die Persönlichkeit und das spirituelle Leben. Er ist die feinste und subtilste Form der Vitalsubstanz und manifestiert sich im Ausdruck der Augen, in der Klarheit des Denkens, im Schlaf, in der emotionalen Ausgeglichenheit.
Shen ist im Herzen – das Herz wird daher als „Wohnsitz des Shen“ bezeichnet. Dennoch hängt Shen auch von der Qualität von Jing und Qi ab. Ohne ausreichendes Jing und stabiles Qi kann sich Shen nicht gut entfalten (‘in einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist’)
Funktionen
• Sitz von Bewusstsein, Denken, Emotionen, Gedächtnis, Intuition
• Reguliert den Schlaf, das Traumerleben
• Spiegel der seelischen und geistigen Gesundheit
• Vermittelt Lebensfreude, Kreativität und spirituelle Entwicklung
Klinische Relevanz
Shen-Störungen zeigen sich zum Beispiel in:
• Schlafstörungen, Unruhe, Albträume
• Angstzuständen, Depressionen, Verwirrtheit
• Nervosität, sprunghafte Gedanken, Konzentrationsprobleme
Therapie:
• Shen-beruhigende Kräuter: Suan Zao Ren, Bai Zi Ren, Yuan Zhi, Fu Shen, He Huan Pi
• Herz-kühlende oder nährende Mittel je nach Muster
• Meditation, spirituelle Praxis, Kontakt zur Natur, Gelassenheit
Zusammenspiel der Drei Schätze
Jing, Qi und Shen stehen in einem dynamischen Wechselverhältnis:
• Jing ist die Wurzel, das Substrat – ohne Jing kein Qi.
• Qi ist die Bewegung, die Energie – es schützt, bewegt, wandelt.
• Shen ist die Blüte, das Bewusstsein – es offenbart sich durch Jing und Qi.
Ein stabiles Leben beruht auf:
• Jing als Substanz
• Qi als Funktion
• Shen als Ausdruck
Ein schwaches Jing beeinträchtigt die Qi-Produktion. Ein schwaches Qi kann Shen nicht halten, der Geist wird unruhig. Ein gestörter Shen erschöpft langfristig Jing und Qi.
Fazit
Die Drei Schätze sind ein integratives Konzept, das den Menschen in seiner physischen, energetischen und geistigen Ganzheit erfasst. Ihre Pflege ist Kernaufgabe der TCM-Therapie, aber auch der Lebensführung (siehe auch Yang Shen):
• Jing bewahren durch massvolle Lebensweise und gute Ernährung
• Qi kultivieren durch Bewegung, Atmung, Kräftigung der Mitte
• Shen nähren durch Schlaf, Herzensruhe, Verbindung zu Sinn und Natur
Die „San Bao“ zu harmonisieren bedeutet, den Menschen in seiner vollständigen Lebendigkeit zu stärken – körperlich, emotional und geistig.