20/01/2019
Es ist ja nur ein Pferd ...
Telefongespräch:
"Herr Müller, ich muss mich heute leider krank melden oder um einen Tag Urlaub bitten. Auch unbezahlt, wenn möglich." "Warum das?" "Mein Pferd ist krank, es hat eine fürchterliche Kolik. Es geht um Leben und Tod, ich muss es in die Tierklinik fahren, sofort!" "Sie wissen, dass das kein Grund ist, der Arbeit fern zu bleiben, Frau Schmidt! Wenn Sie nicht pünktlich an ihrem Arbeitsplatz erscheinen, ist das ein Kündigungsgrund! Ein Tier ist keine Entschuldigung und das Leben eines Tieres steht schon gar nicht vor den unabdingbaren Gesetzen der Arbeitgeberschaft." "Ja dann ist das so, Herr Müller. Dann kündigen Sie mir eben, aber ich lasse mein Pferd JETZT nicht alleine. Und wenn die Welt untergeht, fahre ich mein Pferd JETZT in die Klinik und ich erbitte Sie höflichst um Freistellung meiner Arbeitskraft. Es handelt sich um einen Notfall."
Herr Müller von der Personalabteilung legte wutentbrannt den Hörer auf. Für ihn gab es keine Antwort ausser der, dass er in dem Grund des Fernbleibens vom Arbeitsplatz den Posten von Frau Müller neu belegen müsste. Diese Frau war ersetzbar. Wie jeder Mensch. Auch ein so dämlicher Gaul war in seinen Augen austauschbar. "Frechheit!" schimpfte er. "Wegen so nem blöden Gaul steh ich heute allein hier im Büro. Das muss man sich mal vorstellen! Ist doch nur ein Pferd!"
Herrn Müllers Wut hielt an. Doch dann traf er nachmittags in der Kantine seinen besten Kumpel Andre. Die beiden kannten sich seit Jahren und gingen leidenschaftlich gern zusammen zum Tennis. Andre arbeitete in einer anderen Abteilung und man traf sich regelmässig zum Lunch. "Wie geht's, Andre?" Herr Müller klopfte seinem Freund auf die Schulter. "Sehr gut, Dominik macht grosse Fortschritte. Karin und ich sind so dankbar, dass der Junge wieder fröhlich ist", erzählte Andre strahlend. Dominik war Andres zehnjähriger Sohn und Karin seine Frau. Dominik hatte einen schweren Unfall erlitten, ein Auto hatte ihn angefahren, der Junge war seitdem halbseits gelähmt und besuchte seit seiner nur langsam voranschreitenden Genesung die Reittherapie. Herr Müller wusste sehr wohl davon. "Das freut mich Andre. Obwohl ich nicht verstehe, dass Pferde die Menschen so glücklich machen." Andre erhielt noch bevor er seinem Freund antworten konnte, (er hätte über das Strahlen in den Augen seines Kindes, sobald es auf dem Pferderücken sass, erzählen wollen), plötzlich eine SMS auf seinem Handy. Kurz überflog er diese und sprang dann gleich entsetzt vom Tisch auf. "Oh nein!" sagte er aufgeregt. "Was ist los?", fragte Herr Müller. "Das Pferd aus der Reittherapie hat eine schwere Kolik. Sieht nicht gut aus. Karin hat es mir soeben geschrieben. Dominiks Reitstunde fällt heute aus. Wenn das Pferd das nicht überlebt, dann ...." "Dann?", fragte Herr Müller neugierig. Er war nicht dumm, rasch hatte er eins und eins zusammengezählt. "Ich mache jetzt Feierabend. Ich muss Dominik das schonend beibringen. Er liebt dieses Pferd über alles!"
Herr Müller hoffte sehr, dass Frau Schmidt sich den nächsten Tag wie gewohnt blicken liess. Ebenfalls hoffte er, dass es dem verdammten Pferd wieder besser ginge. Ungeduldig wartete er. Frau Schmidt erschien pünktlich. "Ich muss dann wohl meine Sachen packen und die Kündigung unterschreiben?", fragte sie mit gesenktem Blick. "Aber nein!" Herr Müller winkte ab und schob Frau Schmidt in sein Büro. "Sagen Sie, wie geht's dem Pferd? Ich hoffe doch ... ", stotterte er. Er getraute sich gar nicht weiter zu sprechen. "Ja es ist ausser Lebensgefahr! Die Operation hat gut geklappt. Nun müssen wir abwarten." Frau Schmidt verstand den plötzlichen Sinneswandel ihres Chefs natürlich nicht. "Na Gott sei Dank!" Herr Müller atmete erleichtert auf.
Bin ich jetzt etwa nicht gekündigt?" Frau Schmidt verstand nicht ..."Nein. Ja, äh nein", verhaspelte sich Herr Müller. "Nein!" "Und warum haben Sie ihre Meinung geändert?" "Betriebsgeheimnis, Frau Schmidt, Betriebsgeheimnis!" Herr Müller sprach in Rätseln. Jedoch fiel Frau Schmidt ein riesiger Stein vom Herzen.
"Sagen Sie Frau Schmidt, erlauben Sie mir bitte eine persönliche Frage. Warum haben Sie wegen eines Pferdes die drohende Kündigung in Kauf genommen?" Frau Schmidt dachte einen Moment lang nach, bevor sie ihrem Chef antwortete.
"Wissen Sie, Herr Müller, mit dem Tag, an dem dieses Pferd in mein Leben trat, habe ich eine grosse Verantwortung übernommen. Dieser Aufgabe war ich mir voll und ganz bewusst. In guten und in schlechten Zeiten. Ebenso wusste ich, dass es nichts geben wird in meinem Leben, das sich über die Bedürfnisse dieses Pferdes stellen wird. Weil das Schicksal des Tieres in meinen Händen liegt und ich es mir nie verzeihen könnte, meine eigenen Bedürfnisse vor die meines Pferdes zu stellen. Das Pferd ist mein Freund. Mein bester Freund. Das Pferd macht mich glücklich. Nichts wäre schlimmer für mich, als diesen Freund zu verlieren, wenn ich nicht alles versucht hätte, sein Leben zu retten. Ein Arbeitsplatz lässt sich ersetzen, Herr Müller, ein Freund jedoch nicht!"
Herr Müller staunte über die Courage seiner Angestellten und an diesem Tag hatte er ausserdem eine Menge über Pferde gelernt.
Beim nächsten Lunch in der Kantine...
"Ach Andre, altes Haus, ich freue mich für euch, dass es dem Pferd wieder besser geht!", strahlte Herr Müller fröhlich. Andre staunte nicht schlecht und war leicht verwirrt. "Woher weisst du ...?" Immerhin hatten sich die beiden Männer nach dem letzten Essen nicht mehr getroffen. "Betriebsgeheimnis, Andre. Betriebsgeheimnis!" 😉
Foto Pixaby
Text Anais C. Miller
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