29/11/2025
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Sie konnte nicht richtig lesen, nicht gut hören und durfte im Unterricht nicht sprechen—und dennoch entwickelte sie eine Operation, die Tausende sterbender Babys rettete.
Helen Brooke Taussigs Kindheit war von Hürden geprägt. Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, weigerten sich, Wörter zu bilden. Ihre ausgeprägte Dyslexie machte Lesen zu einer ständigen Anstrengung. Während andere Kinder mühelos durch ihre Bücher glitten, kämpfte Helen um jedes einzelne Wort.
In ihren Zwanzigern traf sie der nächste Schlag: Ihr Hörvermögen ließ nach. Die Welt wurde leiser, Stimmen wurden undeutlich, Geräusche entfernten sich. Doch ihr Wille wurde nur stärker.
Als sie in den 1920er-Jahren ein Medizinstudium anstrebte, stieß sie auf Türen, die sich für Frauen kaum öffneten. Harvard ließ sie Vorlesungen besuchen, verweigerte ihr aber einen Abschluss. Die Boston University ließ sie zwar zu, zwang sie jedoch, hinten im Hörsaal zu sitzen und verbot ihr, mit männlichen Studenten zu sprechen. Sie sollte unsichtbar bleiben.
Helen Taussig akzeptierte das nicht.
Sie brachte sich das Lippenlesen bei. Sie lernte länger und intensiver als alle um sie herum. Sie prägte sich Stoff ein, den sie nicht hören konnte, und entzifferte Texte, die ihre Dyslexie zu einem Rätsel machte. Jede Hürde wurde zu einem weiteren Grund, weiterzukämpfen.
In den 1940er-Jahren arbeitete Dr. Taussig am Johns Hopkins Hospital und behandelte Kinder mit angeborenen Herzfehlern. Dort sah sie etwas Herzzerreißendes: Babys, deren Haut blau wurde, weil ihre Herzen nicht genug Sauerstoff pumpen konnten. Das sogenannte „Blue-Baby-Syndrom“ bedeutete praktisch den sicheren Tod. Eltern gingen verzweifelt nach Hause—ohne Behandlung, ohne Hoffnung.
Helen wollte das nicht hinnehmen.
Sie entwickelte die Theorie, dass man den Blutfluss an den defekten Herzstrukturen vorbeileiten könnte. Es war eine gewagte Idee—Herzchirurgie steckte noch in den Kinderschuhen, und Eingriffe an Neugeborenen galten als unmöglich. Trotzdem suchte sie nach Lösungen. Sie wandte sich an den Chirurgen Alfred Blalock und an den technischen Assistenten Vivien Thomas, dessen außergewöhnliches handwerkliches Können entscheidend wurde.
Gemeinsam arbeiteten sie jahrelang an der Technik. 1944 führten sie den ersten erfolgreichen Blalock–Taussig-Shunt an einem schwer kranken Mädchen namens Eileen Saxon durch. Während der Operation stand Thomas hinter Blalock und leitete ihn Schritt für Schritt anhand seiner Erinnerungen. Minuten später wurde die blaue Haut des Kindes rosig. Sie überlebte.
Bald reisten Eltern aus dem ganzen Land nach Baltimore. Die Flure von Johns Hopkins füllten sich mit Babys, denen niemand hatte helfen können—bis Dr. Taussig ihnen eine Chance gab. Tausende Kinder überlebten dank dieses Eingriffs. Er begründete die moderne Kinderherzchirurgie.
Helen Taussig wurde die Gründerin der Kinderkardiologie und die erste Frau, die zur Vollprofessorin an der Johns Hopkins University ernannt wurde. In den frühen 1960er-Jahren entdeckte sie die schwerwiegenden Folgen des Medikaments Thalidomid und verhinderte, dass es in den USA zugelassen wurde—eine Entscheidung, die unzählige Fehlbildungen verhinderte.
Sie erhielt die Presidential Medal of Freedom und wurde in die National Women’s Hall of Fame aufgenommen. Doch ihr größtes Vermächtnis lässt sich nicht in Auszeichnungen messen: Sie zeigte, dass Grenzen nicht bestimmen, wozu wir fähig sind.
Ein Mädchen, das kaum lesen konnte, wurde Ärztin. Eine Frau, die kaum hören konnte, hörte tiefer hin als alle anderen. Eine Studentin, die schweigen sollte, veränderte die Medizin.
Helen Taussig überwand Hindernisse nicht nur—sie verwandelte sie in Antrieb. Und weil sie das tat, konnten Tausende Kinder aufwachsen und ein Leben führen, das ihnen sonst verwehrt geblieben wäre.
Quellen:
Thomas L. Forbes, Helen Taussig: Founder of Pediatric Cardiology, Johns Hopkins Medical Archives, 2004.
Catherine Neill, The Development of Cardiac Surgery and the Blalock-Taussig Shunt, American Journal of Cardiology, 1994.
Mary Ellen Avery, Leaders in Child Health: Helen B. Taussig, Pediatrics Journal, 1980.
Janet L. Dolgin, The Thalidomide Tragedy and U.S. Drug Regulation, Yale Journal of Health Policy, 2003.