29/09/2021
„Ich kann nicht“ und „Ich will nicht“
Wenn wir uns hilflos fühlen, sind wir immer in einem Kindergefühl. Ich interveniere sofort, wenn jemand in der Beratung sagt „Ich kann nicht“ – „Ich kann das nicht länger aushalten“, „Ich kann keine Nähe zulassen“, „Ich kann mich nicht entscheiden“ und so weiter. Alles Kindersätze! Subjektiv mögen sie stimmen, weil der Betroffene das wirklich so empfindet, aber tatsächlich sind sie ein Vorwand. Natürlich gibt es auch für Erwachsene Grenzen, und es wäre kindisch, diese nicht anzuerkennen. Insofern gibt es auch ein erwachsenes „Das kann ich nicht“ – ich kann keine Beethoven-Sonaten spielen, das ist einfach so. Aber das ist eine schlichte, emotionslose Feststellung. Das subjektive „Ich kann nicht“ geht jedoch mit Gefühlen einher. Gefühlen der Ohnmacht, Hilflosigkeit, des Versagens, immer begleitet von einem unausgesprochenen „Ich würde ja gerne, aber...“. Dies ist ein Kindergefühl, es entspricht der objektiven Situation des Kindes, das tatsächlich nicht kann, sondern darauf angewiesen ist, dass die Eltern für es handeln oder ihm die Erlaubnis geben. Der Erwachsene jedoch kann, wenn er wirklich will.
Deshalb schlage ich einem Klienten, der sagt „Ich kann nicht“, immer vor, das „kann“ durch „will“ zu ersetzen, also zu sagen: „Ich will keine Nähe zulassen“, „Ich will das nicht mehr aushalten“. Damit merkt man sofort, dass man handlungsfähig wird. Hilflosigkeit und Ohnmacht sind mit einem Schlag weg. Dafür spüren wir aber dann unsere Verantwortlichkeit. Wenn ich nicht will, bin ich verantwortlich, wenn ich nicht kann, sind es die anderen. „Ich kann nicht“ heißt, mir sind die Hände gebunden, und meine einzige Chance besteht darin, dass andere es für mich richten. „Ich will nicht“ heißt, ich übernehme die volle Verantwortung für mein Nicht-Handeln. Damit bin ich im erwachsenen Gefühl.
Wenn man dies praktiziert, wird man sehr schnell feststellen, dass man tatsächlich nicht will. Meistens sieht man dann, dass man die Folgen des Handelns nicht in Kauf nehmen möchte. Bei dem Satz „Ich kann keine Nähe zulassen“ zeigt sich dann, dass ich lieber allein bleibe, als das Risiko des Verlassen-Werdens einzugehen. Als kürzlich in einer Paarberatung eine Frau sagte, „Ich kann das nicht länger aushalten, dass er immer Affären hat“, wirkte sie ganz klein, hilflos und verzweifelt. Als sie dann meinem Vorschlag folgte, den Satz mit „Ich will nicht ....“ zu sagen, richtete sich ihr vorher zusammengesunkener Körper sofort auf und ihr Gesicht wurde klar. „Ja, das stimmt“, sagte sie, „ich will das tatsächlich nicht mehr“. Jetzt blickte sie ihren Partner auch offen an, während sie vorher mit leerem Blick ins Nichts schaute. Dann aber wurden ihre Augen feucht – ihr war plötzlich klar, was das bedeutet: das wahrscheinliche Ende der Beziehung.
Wilfried Nelles,
aus: Umarme Dein Leben, Innenwelt Verlag
www.nellesinstitut.de