18/09/2023
„Myrkvi-Diary“
Eintrag 2 ✍️
Nachdem Myrkvi erst einmal ankommen durfte, habe ich am Mittwoch „Bestandsaufnahme gemacht“. Dabei haben wir aus allen Winkeln Fotos von Myrkvi gemacht, um einen guten Eindruck zu bekommen, welche Schwachstellen er hat, und um ggf. auch Vergleichsbilder zu haben.
Das Offensichtliche zuerst: Der Rücken ist sicherlich die größte Baustelle. Eine Kombination aus genetisch nicht einwandfreier Rückenlinie und Trageerschöpfung. Im Video ist zu sehen, wie die Rückenlinie aussehen kann, wenn der Rumpf angehoben wird – und ebenso gut ist zu sehen, wie schnell der Rumpf in seine Ausgangsposition zurück rutscht. Die Lendenwirbelsäule erscheint aufgewölbt und verspannt (was sie auch ist). Die vorfallende Rückenlinie zieht das Becken vor, sodass die Form der Kruppe sich verändert. Um den fehlerhaften Rücken und den hängenden Brustkorb auszugleichen, schiebt Myrkvi seine Vorder- und Hinterbeine unter, Richtung Schwerpunkt. Außerdem verschwinden seine Ellenbogen fast vollständig im Rumpf, da er diese unterschiebt, um den Brustkorb zu stabilisieren. Infolgedessen zeigen die Buggelenke nicht geradeaus, sondern leicht nach außen, was wiederum eine Zehenweite begünstigt. Außerdem ist dadurch die Brust enger, als es zum Körperbau des Pferdes passen würde. Die Fesseln sind sehr weich, gerade die Hinterhufe sind flacher, als es für Hinterhufe üblich ist. Natürlich kann hier auch ein gewisses Maß an Hypermobilität mit hinein spielen, welches Myrkvi aufweist. Die Oberlinie im Hals ist nur mäßig ausgeprägt, der Unterhals dafür relativ prominent. Man sieht deutlich, dass er – gerade zum Brusteingang hin – verspannt ist: man nennt dies Kompensationsmuskulatur. Der CTÜ (der Übergang zwischen Hals- und Brustwirbelsäule) hängt sehr tief, sodass das Pferd mit seinem Hals „gegensteuern“ muss. Dies geschieht u.a. über die Unterhalsmuskulatur. Im Gesamteindruck wirkt Myrkvi hinten deutlich überbaut, dies ist aber fast ausschließlich der mangelhaften Rückenlinie geschuldet, denn der Widerrist ist tatsächlich fast genauso hoch. Außerdem macht er generell den Eindruck, vorne „in den Boden zu stehen“. Die imaginäre Linie zwischen Sitzhöcker und Buggelenk ist nicht waagerecht, sondern fällt nach vorne hin deutlich ab. Es gibt noch weitere Dinge zu sehen, wie z.B. die Schiefe des Pferdes (von oben und von der Seite betrachtet deutlich zu sehen), die ihn beispielsweise auch im Stand eher nach rechts schauen lässt. Kompensationsmuskulatur am gesamten Körper, „Muskellöcher“, eine „verklebte“ Schulter etc.
Nachdem ich diese erste Analyse durchgeführt habe, habe ich das Prinzip Druck – Weichen – Lob (Druck weg) etabliert, was zwar jedes Pferd vom Prinzip her kennt, aber häufig haben wir durch bewusste und unbewusste Handlungen diese gewünschte Reaktion des Pferdes abtrainiert oder „verwässert“. Das Prinzip: ich setze z.B. meinen Daumen ein, um Druck auf einen Triggerpunkt am Oberhals zu bringen. Das Pferd soll auf diesen mechanischen Reiz den Hals senken (der Muskel dehnt sich), in diesem Moment muss der Impuls sofort(!) beendet werden. Da über spezielle Mechanorezeptoren der Muskel bei Druck den Impuls bekommt, zu entspannen, schlagen wir damit 2 Fliegen mit einer Klappe: Wir zeigen dem Pferd eine Möglichkeit, in eine Entspannung zu kommen (und über die Dehnung des Muskels und die Entspannung am Triggerpunkt der Verspannung entgegen zu wirken), und trainieren oben genanntes Druck-Weichen-Prinzip. Später verlange ich mehr als nur ein Senken des Kopfes, am Anfang reicht mir – je nach Pferd – ein leichtes Andeuten. Wichtig: Andere Ideen als die gewünschte werden ignoriert! Hier darf weder Bestrafung noch Beendigung des Impulses erfolgen.
(Dies gilt übrigens für alle Momente, in denen mit Druckaufbau eine weichende Reaktion erfolgen soll – geht mal in euch: habt ihr z.B. schon einmal den Führstrick nachgegeben, als euer Pferd „lieber“ rückwärts gegangen ist, als in den Hänger zu steigen? In diesem Moment habt ihr das Pferd für diese Reaktion gelobt)
Myrkvi ist glücklicherweise ein ziemlich schlaues Kerlchen, er hat das Prinzip sehr schnell verstanden, sodass ich am Tag nach der Bestandsaufnahme direkt mit dem eigentlichen Training beginnen konnte. (Eintrag 3 folgt)