18/10/2020
Super geschrieben! Auf jeden Fall komplett lesen, auch wenn es viel Text ist 👍🏼
Irrtümer über das „moderne Pferd“.
Um es vorweg zu nehmen: es ist der „moderne Reiter“, welcher den Schaden verursacht. Nicht das Gebäude, das Exterieur oder Interieur des Pferdes.
Denn es ist der Reiter, der durch mangelndes Können oder Wissen, durch Grobheit oder unklare Hilfen, das Pferd in seinem Innern verunsichert und seelischen wie körperlichen Schaden verursacht.
Es gibt nun einmal nur einen einzigen Weg ein Pferd zu einem Reitpferd werden zu lassen, das den an es gestellten Anforderungen gerecht wird, ohne dabei Schaden zu nehmen:
Eine gründliche, positive, viele Jahre dauernde Ausbildung.
Da das viele Menschen heute vergessen zu haben scheinen:
Die Ausbildung unter dem Sattel sollte nicht vor dem 4. Lebensjahr (also nach dem abgeschlossenen 3.Lebensjahr) beginnen und sich bis zur Vollendung des 7. Lebensjahres auf das freie Reiten im Gelände, das Finden der Balance und des Gleichgewichtes sowie auf die grundlegende Gymnastizierung beschränken.
Jede Art von Überbelastung oder Überforderung in diesen Jahren kann (und wird) sowohl körperliche als auch seelische Schäden im Pferd hinterlassen.
Pferde vergessen nichts und speichern unangenehme, schmerzhafte, mit Stress verbundene Erfahrungen ab. Dann genügt eine Bewegung, ein Geruch, ein Laut und das Pferd wird umgehend wieder in den Fluchtmodus versetzt, in Stress und Anspannung. Genauso wird ein Pferd, welches unter der Zufügung von Schmerz geritten wurde, versuchen, diesem in Zukunft durch Flucht zu entgehen oder sich dagegen zu wehren. Reiten ist für das Pferd dann sehr schnell ausschließlich mit Schmerz, Angst und Stress besetzt und die grundlegenden Kriterien wie Losgelassenheit oder Durchlässigkeit wird man in einem solchen Pferd nicht finden.
Womit ein frühzeitiger Verschleiß und körperliche Erkrankungen (auch der Organe, s. „Zusammenhänge im Pferd“!) vorprogrammiert sind.
Solche Erfahrungen zu vermeiden ist daher das oberste Gebot.
Leider scheint es vielen „modernen Reitern“ schwer zu fallen, ein vierjährig gekauftes (und möglicherweise schon beim „Einreiten“ überfordertes) Pferd weitere drei Jahre nur in der absoluten Basis zu arbeiten. Es herrscht die Ansicht, nur wer schwierige Lektionen reiten oder hohe Sprünge absolvieren kann, ist ein „guter“ Reiter - und da sich leider etliche Menschen aus dieser im ursprünglichen Sinne der Reiterei ganz falschen Motivation heraus auf das Pferd schwingen, also um sich selbst darzustellen und zu glänzen, werden die Pferde dieser Menschen dann in Haltungen gezwungen und mit Anforderungen konfrontiert, die sie weder körperlich noch geistig erfüllen können.
In diesem Zusammenhang ist es unglücklich, dass die Züchter in den vergangenen Jahren vornehmlich Pferde gezogen haben, bei denen Wehrhaftigkeit und Robustheit übergroßen Bewegungen und spezieller "Veranlagung" gewichen sind.
Diese "modernen" Pferde machen es dem „modernen Reiter“ noch leichter, den Tieren Schaden zuzufügen.
Das Pferd „bietet sich doch an“, heißt es dann.
Als würde der Kauf eines für die angestrebte Disziplin veranlagten Pferdes die jahrelange, vielseitige, durchdachte, vorsichtige und pferdegerechte Ausbildung obsolet machen.
Hätte man dieselben Reiter auf die Pferde gesetzt, die meine Großmutter früher hatte, wären ihre makellos sauberen Reithosen mit Klebebesatz und die Lackstiefel ganz schnell so oft mit dem Boden in Kontakt gekommen, dass sie bald eine gewisse Patina erhalten hätten.
Es würde mich nicht verwundern, wenn die meisten von ihnen das Reiten dann doch lieber wieder aufgegeben hätten.
Liebe Reiter: Die heutigen Pferde mögen heute mehr "Veranlagung" und spektakulärere Bewegungen mitbringen und sie lassen sich definitiv viel mehr gefallen, als unsere Pferde früher.
Aber: Ihr Organismus und ihr Wachstum hat sich nicht verändert. Es dauert immer noch 7 Jahre, bis ein Pferd annähernd ausgewachsen ist.
Es ist im Gegenteil so, dass die großen, viel aufwändigeren Bewegungen und die für meine Einschätzung oftmals viel zu langen Beine, eine noch viel gewissenhaftere, langsamere Ausbildung erfordern, als die kurzbeinigen, robusten Pferde von früher. Diese "modernen Pferde" sind vielleicht hübscher anzusehen aber definitiv anfälliger für jede Art von Verschleiß, Erkrankungen und Überbeanspruchung.
Es ist ein Irrtum zu glauben, dass ein hochveranlagtes Pferd einem die Arbeit verkürzt oder die Zeit, bis man es „vorstellen“ und hohen Anforderungen aussetzen kann. Es ist ein Irrtum, der fatale Folgen für das Pferd hat.
Eine langsam aufeinander aufbauende, vielseitige und durchdachte Ausbildung ist die einzige Basis, auf der man später von einem Pferd fairer Weise höhere Leistungen fordern darf.
Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum es so vielen Menschen so schwer fällt, das zu verstehen. Es würde doch auch niemand auf die Idee kommen, innerhalb weniger Monate einen Spagat zu machen oder nach ein paar Monaten Training an einem Iron Man teilzunehmen. Es würde auch niemand auf die Idee kommen, ein Kind Gewichte heben zu lassen.
Und: Reiten ist eben kein Sport. Es ist eine Kunst - und es betrifft ein anderes Lebewesen. Die Verantwortung, die ein Reiter hat, ist daher um ein Vielfaches größer, als bei einem Tennisspieler. Vergessen wir das doch bitte nicht.
Julie von Bismarck
Beschrieben habe ich dieses Thema unter anderem auch in meinem ersten Buch:
https://www.amazon.de/Reitsport-Auf-dem-R%C3%BCcken-Pferdes/dp/3982041430/ref=sr_1_1?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=2VZJ2A3UOFLWW&dchild=1&keywords=reitsport+auf+dem+r%C3%BCcken+des+pferdes&qid=1591861524&sprefix=reitsport+au%2Caps%2C198&sr=8-1
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