30/11/2025
Unsere Haare sind weit mehr als das, was wir im Spiegel sehen können. Denn sie sind Fäden unserer Seele, Schwingungen, die durch unseren Körper wandern, Verlängerungen unserer Intuition, Antennen zwischen Erde und Himmel. Unsere Vorfahren wussten das, und manchmal, wenn der Wind leicht durch mein Haar fährt, spüre ich, dass dieses Wissen immer noch in uns lebt.
Ich erinnere mich an etwas, das mir eine der älteren Frauen, in einer schamanischen Ausbildung, sagte: „So wie du dein Haar trägst, so trägt dich auch das Leben. Betrachte deine Haare, ihr Wesen und erkenne dich.“ Und je länger ich sie nun schon betrachte, webe und wirke, desto wahrer erscheint mir dieser Satz. Meine Haare erzählten und spiegelten mir viele meiner Geschichten, und ja die tun es noch immer.
Wenn mein Haar frei fällt, ungebunden ist, wild und offen, dann fließt die Energie wie ein ungezähmter Fluss durch mich. Dies ist die Zeit, in der die Seele durchatmet, in der wir vertrauen, empfangen, spüren, uns mit Wind, Geist und Freiheit verbinden. So trugen die Seherinnen gerne ihr Haar offen, wenn sie mit den Welten sprachen.
Doch wenn die Hände beginnen, Strähne für Strähne zu flechten, dann geschieht etwas anderes. Der Atem wird ruhiger, der Geist klarer. Denn ein Zopf ist nicht nur ein Zopf. Er ist ein alter Zauber. Drei Stränge, die sich umeinander legen, so wie Körper, Seele und Geist einander halten. Oder auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die für einen Moment Frieden miteinander schließen. Geflochtenes Haar bündelt und sammelt Kraft und Energie. Es lenkt den Fokus nach innen, zentriert und schützt die Frau, die ihn trägt. Es verstärkt und bekräftigt den Gedanken, das Auftreten im gesamten erscheinen. Man weiß was man will.
Ein hoher Knoten hingegen ist wie eine leuchtende Krone. Hexen banden ihr Haar oft so, wenn sie wirkten, wenn sie zwischen den Feldern standen, mit einem Fuß in der Welt der Menschen und einem im Reich des Unsichtbaren. Denn der Knoten hält die Energie hoch, er zentriert, hält wach und aufmerksam, verbindet mit der höheren Weisheit. Es ist ein stilles und anmutendes Zeichen, von ich bin im Fokus und ich halte das Feld.
Der Pferdeschwanz, so einfach er auch scheint, trägt eine andere Kraft, er hat die Energie gesammelt, ist bereit und klar. Es ist die Frisur derer, die heute erschaffen, handeln, wirken und etwas bewegen wollen. Die Energie sitzt im Nacken, im Feuerpunkt des Handelns, wirkt dynamisch und die Energie strömt nach vorne in die Welt.
Und dann gibt es Haar, das halb gebunden, und halb frei ist. Das Haar der Übergänge. Zwischen innen und außen, zwischen Tun und Sein, zwischen Ruf und Antwort. Es zeigt den Schritt über die Schwelle an, und genauso fühlt es sich an, wenn eine halb gebundene Strähne dein Gesicht streift, als berühre dich sanft die andere Welt.
Wenn du dein Haar bedeckt hältst ist dies ein Hinweis darauf, dass du deine eigene Energie hüten möchtest. Es ist wie ein Mantel des Schutz. Nicht die Welt darf jetzt von dir empfangen, sondern die Kraft bleibt in deinem inneren, sie ist heilig, sammelnd und bewahrend.
Und selbst das Schneiden der Haare trägt seine Bedeutung mit sich. Mit jeder abgenommenen Strähne fallen alte Muster, Geschichten und Bindungen. Oft steht das offensichtliche schneiden der Haare oder das komplette verändern einer Frisur für einen Neubeginn. Ein Hinweis auf einen klaren Schritt im leben und ein mutiges „Ich wähle mich“.
Und so, wenn ich über all diese Formen nachdenke, spüre ich, dass Haare in ihrem eigentlichen Wesen so rein gar nichts mit Eitelkeit zu tun haben. Vielmehr sind für uns Erinnerungsfäden und reine Magie. Denn sie erzählen, wie es in uns tatsächlich aussieht, noch bevor wir ein Wort gesprochen haben.
Trage dein Haar so wie deine Seele fließen möchte, sie sich zeigen und offenbaren möchte. Denn jede Strähne, jede Flechtung, jede Locke, und auch jedes einzelne graue Haar spricht seine eigene Sprache, die älter ist als die Zeit selbst und tiefer als jede Erinnerung. Und die Welt hört sie, und das immer.
Maria Solva Roithinger