22/06/2023
GESUNDHEIT: Selbstständig bis ins hohe Alter: „Besser Kraft als Ausdauer trainieren“
Wer seine Muskulatur in Schuss hält, kann Pflegebedürftigkeit länger vermeiden. - Von Frederik Jötten
Herr Froböse, Sie machen selbst sehr viel Sport – haben Sie eigentlich einen Waschbrettbauch? Nein, aber immerhin sieht man ein Muskel-Relief unter der Haut – ich würde sagen, für mein Alter ist der Bauch noch vorzeigbar.
Treiben Sie Sport, um gut auszusehen? Muskeln haben einen ästhetischen Wert, aber den Körper rein äußerlich perfektionieren zu wollen, hat rein gar nichts mit Fitness und Lebensqualität zu tun. Und darauf kommt es doch an.
Steht der Kult um den Sixpack für das fehlende öffentliche Verständnis über unsere Muskulatur? Absolut – für viele Menschen ist der Waschbrettbauch anatomisch unmöglich zu erreichen. Die Muskulatur ist missbraucht worden. Viele verstehen unter Krafttraining leider Bodybuilding – und da geht es nur darum, äußerlich möglichst viel Volumen zu erreichen. Das hat nichts mit Gesundheit zu tun.
Warum ist zu wenig Muskelmasse ein Problem? Ab dem 30. Lebensjahr geht es bergab mit unserer Muskulatur, sie wird abgebaut, wenn wir sie nicht ausreichend trainieren. Jedes Jahr verlieren wir schleichend etwa ein Prozent unserer Muskeln. Das ist dramatisch, denn so verschwinden etwa 30 bis 50 Prozent der Muskelmasse bis zum 80. Lebensjahr.
Aber ist es nicht ganz normal, dass wir mit 80 Jahren nicht mehr so viele Muskeln haben wie mit 30? Uns allen droht im Alter der krankhafte Verlust von Muskeln – und wer keine Kraft mehr hat, wird pflegebedürftig. Aber dieses Phänomen, genannt Sarkopenie, ist kein Schicksal. Wer seine Muskulatur aufbaut und in Schuss hält, kann es verhindern und oft bis ins hohe Alter seine Selbstständigkeit erhalten.
Demnach wäre das Pumpen quasi eine gesellschaftliche Aufgabe? Die Stärkung unserer Muskeln ist das, was wir in der Hand haben, um Pflegebedürftigkeit zu vermeiden. Das ist natürlich gesellschaftlich höchst relevant, wenn wir an den Fachkräftemangel im Pflegesektor und an die explodierenden Kosten im Gesundheitsbereich denken. Vor allem will aber doch niemand vorzeitig in eine hilflose Lage geraten. Das Wissen um die Wichtigkeit des Krafttrainings ist leider noch nicht in der breiteren Bevölkerung, ja nicht einmal in der Ärzteschaft angekommen. Es ist für mich ein Skandal, dass die Muskulatur noch immer nicht in die normale medizinische Diagnostik integriert ist. Dabei haben Studien schon vor Jahren gezeigt, dass wenig Muskelmasse mit einem deutlich höheren Risiko eines vorzeitigen Todes einhergeht.
Eigentlich müsste es demzufolge Krafttraining auf Rezept geben? Das könnte ein Anstoß für Menschen sein, damit zu anzufangen. Wichtig wäre, dass jeder weiß: Wir besitzen eine körpereigene Apotheke, die jederzeit griffbereit ist. Krafttraining stärkt nicht nur die Muskeln, sondern es beeinflusst gleichzeitig positiv Blutdruck, Stoffwechsel, verringert das Risiko für Herzkrankheiten, Diabetes, Demenz und Krebs. Allerdings gibt unsere Apotheke ihre Heilstoffe nur dann ab, wenn wir unsere Muskeln aktiv einsetzen.
Wie soll unsere Muskulatur all das bewirken können? Erst in den vergangenen Jahren zeichnet sich ab, dass die Muskulatur das größte Organ des Körpers ist, das hormonähnliche Stoffe ausschüttet. Es sind hunderte verschiedene Substanzen, die sogenannten Myokine. Wir wissen noch nicht, wie das im Detail funktioniert, aber diese Botenstoffe sorgen wohl für all die positiven Effekte von Muskeltraining auf die Gesundheit, die wir aus Studien mit Hunderttausenden Teilnehmern kennen.
Und wenn es einem gar nicht darum geht, zusätzliche Muskelmasse aufzubauen? Wenn ich von Muskelaufbau spreche, dann meine ich keine große Volumenzunahme wie beim Bodybuilding. Wir alle brauchen Muskelaufbau, schon alleine, um keine Muskelmasse zu verlieren, denn diese muss ständig erneuert und repariert werden. Wenn wir stärker werden wollen – auch ohne Volumenzunahme des Muskels – brauchen wir erst recht Muskelaufbau.
Gemeint ist damit aber nicht das, was die meisten machen: Ausdauersport, ein bisschen Joggen, ein bisschen Radfahren? Der Blick der Medizin richtet sich meist aufs Abnehmen und deshalb auf den Ausdauersport. Dabei profitieren sogar Übergewichtige mehr vom Training der Muskulatur und einer Vergrößerung der Muskelmasse.
Ich habe verstanden, dass man etwas tun muss. Aber die Zeit ist immer knapp. Was ist der Mindesteinsatz für Faule? Ich habe mal ein neun Minuten-Programm entwickelt, also um die zehn Minuten am Tag sollten es sein. Am effektivsten ist es, die großen Muskeln zu trainieren. Mit Liegestützen, Kniebeugen und dem diagonalen Arm und Beinheben im Vierfüßler-Stand ist man schon ganz gut dabei.
Tagesspiegel 23.06.2023