07/12/2025
Neuroaffirmative Therapie
Neuroaffirmative Therapie ist kein neuer Trend, sondern Teil eines größeren Wandels in der Psychotherapie. Sie basiert auf dem Neurodiversitäts-Paradigma: der Annahme, dass neurologische Unterschiede wie ADHS, Autismus, Dyslexie oder Tourette keine Fehler sind, sondern natürliche Varianten menschlicher Entwicklung.
Lange Zeit wurde in der Psychotherapie davon ausgegangen, dass es eine „richtige“ Art zu denken, zu fühlen und zu reagieren gibt und dass Abweichungen davon korrigiert werden müssen. Bei ADHS führte das oft dazu, dass Verhalten als mangelnde Disziplin, fehlende Einsicht oder Widerstand gedeutet wurde.
Neuroaffirmative Ansätze stellen diese Sichtweise auf den Kopf. Sie fragen nicht mehr: Wie können wir Betroffene anpassen?, sondern: Wie können wir Umwelt, Therapie und Erwartungen so gestalten, dass sie zu ihrem Nervensystem passen?
Das bedeutet in der Praxis:
– weniger Fokus auf Defizite, mehr auf Ressourcen und Bedingungen, die Überforderung reduzieren
– Verständnis für Unterschiede in Reizverarbeitung, Dopaminregulation und Impulskontrolle
– Anpassung von Zielen, Tempo und Struktur an das, was das Gehirn real leisten kann
– Einbezug von Sensorik, Körperwahrnehmung und Reizmanagement in die therapeutische Arbeit
Menschen mit ADHS erleben Reize, Emotionen und Motivation intensiver. Sie brauchen keine „Umerziehung“, sondern Strategien, die Überreizung vorbeugen, Erholung ermöglichen und Dopamin balancieren, also Sicherheit, nicht Kontrolle.
Eine neuroaffirmative Haltung bedeutet, mit dem Gehirn zu arbeiten, nicht dagegen. Sie schafft Raum für Selbstakzeptanz und Verständnis statt Scham und Druck.
Und genau deshalb verändert dieser Ansatz so viel: Weil er endlich anerkennt, dass das Ziel nicht daraus besteht, „normal“ zu werden, sondern sich selbst zu verstehen.