06/10/2021
Hartmut Radebold
*1935. †2021
Ein Nachruf von Andreas Fischer
Mein Drehteam und ich wurden an der Tür des Hauses in Kassel freundlich empfangen, es öffnete uns ein großer, schlanker, weißhaariger Herr, der Ruhe und Überlegtheit ausstrahlte. Dies war meine erste Begegnung mit Prof. Hartmut Radebold.
Wir drehten 2005 ein Interview für meinen Dokumentarfilm SÖHNE OHNE VÄTER über kriegsbedingt vaterlos aufgewachsene Männer. Zusammen mit den Autoren Prof. Jürgen Reulecke und Hermann Schulz hatte Prof. Hartmut Radebold, selbst ein vaterloser Sohn, ein Buch gleichen Titels geschrieben, das mich überhaupt erst auf die Idee zu dem Film gebracht hatte. Ich erfuhr, dass es Prof. Radebold gewesen war, der in den 90er Jahren das Thema Kriegskinder als Erster in der Welt der Psychologie populär gemacht hatte. Zunächst allerdings war er damals angegriffen und ausgelacht worden:
Ein Kind im Mutterleib soll etwas mitbekommen haben, wenn die Schwangere im Luftschutzkeller Todesängste auszustehen hatte?
Oder ein Kleinkind?
Lachhaft!
Das Interview mit Prof. Radebold wurde für mich zu einem Problem. Ich fand seine Ausführungen präzise, schön erzählt. Großartig. Besonders begeisterte mich, dass dieser ältere, in seiner Zunft sehr berühmte Herr vor der Kamera seine Gefühle zeigte. Beim Gedanken an die Sehnsucht nach dem Vater, die ihn zeitlebens begleitete, brach Prof. Radebold, damals siebzig Jahre alt, in Tränen aus. Ich fragte ihn, ob ich den Moment in den Film aufnehmen dürfe. Er stimmte dem nicht nur zu, sondern ermunterte mich. „Wir Kriegskinder MÜSSEN unsere Gefühle zeigen, das ist wichtig, wir müssen zeigen, wie wir von unseren Ängsten und Verlusten bis heute verfolgt werden“, argumentierte er.
Ich erstellte eine erste Schnittfassung – Prof. Radebolds Tränenausbruch leitete den Film ein.
Die Redaktion war schockiert.
Ein alter Mann, der in Tränen ausbricht?
Will man das sehen?
Ist das dem Zuschauer zuzumuten?
Letztlich setzte ich meine Fassung durch, und der Film beginnt mit dieser Szene.
Die Zuschauerreaktionen waren überwältigend. Genau dies, dass Prof. Radebold und dann auch noch andere Interviewpartner so offen über ihre Gefühle sprachen und sie auch zeigten, das war damals bahnbrechend und für zahllose Zuschauer erlösend. Viele Kriegskinder vor dem Fernseher, die geglaubt hatten, die Ängste und Sehnsüchte verfolgten nur sie allein, sahen nun: Da ist ein Muster! Zu erkennen, dass man mit seiner Gefühlslage, seiner Lebenssituation nicht allein steht, sondern dass es da ein Muster gibt, das auf spezifische Umfeldbedingungen zurückzuführen ist, kann extrem erlösend sein.
Genau das war die Mission von Prof. Radebold: Er wollte die Kriegskinder SICHTBAR machen. So rührte er auch bis vor wenigen Monaten beständig die Werbetrommel für meine Filme, die sich mit der Kriegskinder- und später Kriegsenkelthematik beschäftigten. Er fädelte zahllose Aufführungen in Kinos und auf Tagungen ein, erwähnte die Filme bei jedem Vortrag und verteilte Flyer, die ich extra für ihn drucken ließ. Später regte Prof. Radebold meinen Film DER HAMBURGER FEUERSTURM 1943 an, worin es anhand von Familien, in denen ein Mitglied den Feuersturm überlebt hatte, um die transgenerationale Weitergabe von Kriegstraumata in Familiensystemen ging. Für meinen Film TÖCHTER OHNE VÄTER erwirkte er zusammen mit Frau Prof. Barbara Stambolis eine Förderung der GERDA HENKEL STIFTUNG. Natürlich wollte er mir damit etwas Gutes tun, zweifelsohne, doch mehr noch ging es ihm um die Sache, um die Verbreitung der Botschaft.
So war Prof. Radebold für mich ein Förderer und Promoter, und über die Zeit wurde der vaterlos aufgewachsene Ältere zum väterlichen Freund des Jüngeren, der mit einem anwesenden/abwesenden Vater groß geworden war.
Kurios.
Aus meiner Sicht nahm Prof. Radebold eine „Scharnierfunktion“ zwischen den Kriegskindern und Kriegsenkeln einerseits und der Öffentlichkeit andererseits wahr. Ich möchte dazu von einer Szene berichten, die sich bei der Premiere meines Films DER HAMBURGER FEUERSTURM 1943 zutrug.
Mitte der 90er Jahre stieß der Gedanke, Kleinkinder oder gar Ungeborene könnten von den Kriegsereignissen beeinflußt und beeinträchtigt worden sein, auf Ablehnung und Aggression.
Dies wiederholte sich, als zu Beginn der 2000er Jahre die Kinder der Kriegskinder, also meine Generation, die Stimme erhoben und begannen, vom zum Teil sehr schwierigen Aufwachsen mit den traumatisierten Kriegskindern als Eltern zu berichten. Diese Aggressionen habe ich persönlich zu spüren bekommen, als ich für das Projekt zu recherchieren begann.
Der Film war als Zweiteiler angelegt. Im ersten Teil berichteten Frauen und Männer, die als Kinder oder Jugendliche den Feuersturm überlebt hatten, von ihren Erlebnissen. Im zweiten Teil sollten Vertreter und Vertreterinnen der Kriegsenkelgeneration erzählen, wie es war, mit derart traumatisierten Eltern aufzuwachsen. Bereits bei den Telefonaten, die ich führte, um Interviewpartner für den Film zu finden, wurde ich von Kriegskindern angefeindet.
„Wozu ein zweiter Teil?“
„Was haben denn unsere Kinder damit zu tun?“
„Was für ein Blödsinn.“
Bei der Premiere des Films 2009 in Hamburg war das riesige Kino, das der NDR dafür angemietet hatte, mit 1000 Zuschauern besetzt. Etwa dreiviertel der Zuschauer waren Kriegskinder, der Rest Kriegsenkel. Prof. Radebold war mein Ehrengast, denn er hatte mich ja erst auf die Idee zu diesem Film gebracht.
Der erste Teil lief, die Kriegskinder waren berührt und zufrieden, sie waren wahrgenommen und gehört worden, sie hatten in dem Film eine Stimme bekommen.
Dann begann der zweite Teil, jetzt kamen die Kriegsenkel zu Wort. Nach etwa 10 Minuten verließen die ersten Kriegskinder laut schimpfend den Saal und forderten, wie ich später erfuhr, an der Kasse ihr Eintrittsgeld zurück.
Als der zweite Teil gespielt war, hatte sich der Saal deutlich geleert. Ich trat vor den Rest des Publikums und wollte ein Gespräch beginnen.
Es war unmöglich.
Schimpfkanonaden prasselten auf mich ein, es gab einen regelrechten Tumult, so sehr empörten sich die Kriegskinder.
Schmerz, Sehnsucht, Trauer, das gehörte doch ihnen allein.
Nun trat Prof. Radebold an meine Seite und ergriff das Mikrofon. Ruhig und gemessen, wie es seine Art war, stellte er sich vor. Er sei Professor, Wissenschaftler, Psychologe und habe die im Film beschriebenen Phänomene erforscht und Lehrbücher darüber geschrieben. So könne er hier und jetzt als Wissenschaftler bestätigen, dass die von den Kriegsenkeln im Film berichteten Phänomene tatsächlich existierten. Nun erst, da der weißhaarige Professor ein Wort für uns einlegte, wurden die empörten Kriegskinder ruhiger, und der Tumult legte sich.
Abgesehen davon, dass es für mich persönlich eine unvergessliche Szene war, zeigte sich hier eine wesentliche Aufgabe, die sich Prof. Radebold zu eigen gemacht hatte. Er war, um einen Begriff aus der Dramaturgie zu verwenden, die fleischgewordene „Beglaubigungsstrategie“:
„Wenn der Professor das sagt, dann ist ja vielleicht doch etwas dran!“
Ich werde Hartmut für seine Unterstützung, die er mir und meinen Filmen gewährte, immer dankbar sein. Ich werde ihn als Freund in meinem Herzen behalten, ebenso wie seine Frau Hildegard, die ich dann im Zuge der Zusammenarbeit kennenlernte und die mir ebenso zur Freundin wurde.
Hildegard starb im September zwei Tage vor Hartmut.
„Gemeinsam gelebt. Gemeinsam gestorben.“, haben die Kinder der beiden auf ihre Trauerkarte geschrieben.
Andreas Fischer
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