01/09/2021
„Ein grenzwertiger Hype": Hannelore Daniel, emeritierte Professorin, ist Expertin für die Physiologie der menschlichen Ernährung. Im Gespräch mit der LZ nimmt sie den Trend zur individualisierten Ernährung und seine wissenschaftlichen Grundlagen kritisch unter die Lupe
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Frau Daniel, Sie betonen in Ihren Vorträgen, dem personalisierten Supermarkt gehöre die Zukunft. Was soll ich mir darunter vorstellen?
Ich sehe darin die Weiterentwicklung des Onlinehandels mit Lebensmitteln. Einen solchen virtuellen Store betritt der Kunde sozusagen mit seinen persönlichen Voreinstellungen, also seinen Kriterien, nach denen er das Angebot filtert.
An was denken Sie dabei?
Ein Kunde möchte vielleicht nur Produkte mit dem besten Tierwohlstandard und dem geringsten CO2-Fußabdruck, ein anderer wählt Bio oder Lactosefrei. Wer unter Bluthochdruck leidet, könnte „salzarm" als Vorsteinstellung nutzen. Man bekommt dann nur die Produkte angezeigt, die zum persönlichen Profil passen. Vielleicht können Sie in Zukunft mit einer Virtual-Reality-Brille an digitalen Regalen entlang schlendern, die genau für Sie passende Produkte enthalten.
Ich soll mir also nicht spezielle Anbieter für meine Bedürfnisse suchen, sondern gleich meinen eigenen Supermarkt konfigurieren?
Genau – und ich bin sicher, dass das kommt. Denn durch die persönliche Vorauswahl wird das überbordende Warenangebot reduziert, was den Konsumenten die Einkaufsentscheidung leichter macht.
Lebensmittelhändler wollen aber doch gerade diese Fülle zeigen.
Die Menge der Artikel in den Regalen verursacht nach meinen Erfahrungen heute mehr Leid als Freude. Für viele Leute ist der Einkauf von Lebensmitteln ein Lauf im Irrgarten. Sie sind mit der Fülle der Anforderungen, die an sie herangetragen werden – von Umweltschutz bis Tierwohl – und von der schieren Menge der Waren im Laden überfordert. Wir haben in unseren Forschungsprojekten festgestellt, dass viele Verbraucher beim Thema Essen völlig verunsichert sind und sie sich nach Orientierung sehnen.
Was treibt die Nachfrage nach personalisierter Ernährung überdies an?
Eine wichtige Rolle spielt die Psychologie: Jeder hat das Gefühl, in der Masse unterzugehen. Über Ernährung versuchen viele, sich abzuheben und als Individuum darzustellen. So kann das Einkaufserlebnis im virtuellen Supermarkt in Verbindung mit sozialen Medien auch dieses „social tattoo" bedienen.
Es scheint im Moment zwei Richtungen zu geben, sich individualisierter Ernährung zu nähern – vom Genom her kommend oder vom Mikrobiom, der Darmflora. Welche wird das Rennen machen?
Keine von den beiden. Das meiste, was in dem Zusammenhang zur Zeit analysiert und an Empfehlungen den Menschen zurückgegeben wird, entbehrt wissenschaftlicher Evidenz. Und Manches ist kompletter Blödsinn.
Diese Daten geben keinen Aufschluss darüber, was der Mensch essen sollte?
Natürlich nicht! Wie soll denn das auch gehen? Die Analytik des Mikrobioms etwa ist nicht standardisiert. Schicken Sie eine Stuhlprobe an zehn Labore – und Sie bekommen zehn verschiedene Ergebnisse. Keiner kann zur Zeit sagen, wie ein „gesundes" Mikrobiom aussieht. Das ist für mich ein wissenschaftlich grenzwertiger Hype. Wir sind weit davon entfernt, aus den vorliegenden Daten irgendwelche sinnvollen Ernährungsempfehlungen ableiten zu können.
Und wie beurteilen Sie DNA-Analysen?
Da sieht es nicht viel besser aus. Aufgrund der bisherigen Studien lassen sich nur rückblickende Aussagen treffen. Man schaut sich beispielsweise an, ob Menschen mit einer bestimmten genetischen Konstitution ein erhöhtes Risiko für Adipositas, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes haben und ob das mit einer bestimmten Ernährungsweise assoziiert ist. Die Studien, die dann zeigen, dass im Umkehrschluss eine Ernährung A oder B besser ist, die gibt es praktisch nicht. Solche Studien wären aber notwendig. Diese brauchen jedoch lange Beobachtungszeiträume und sind daher auch sehr teuer.
DNA-Tests, um individuelle Speisepläne festzulegen, sind also Nonsens?
Ja. Natürlich kann man mit solchen Tests eine Lactose- oder Gluten-Intoleranz schnell dingfest machen, aber darum geht es ja nicht. Für eine Ernährung, die gesund macht oder gesund erhält, gibt es aber keinen validen Test. Es gibt eben auch keine Studien, die belegen, dass bei einer bestimmten genetischen Konstitution eine bestimmte Ernährungsweise langfristig die Menschen gesünder macht.
Heißt das, um diese Form der Personalisierung des Essens wird zu viel Aufhebens gemacht?
Das kann man so sagen. Es liegt aber im Zeitgeist und lockt Leute an, die damit Geld machen wollen.
Für welche Form der personalisierten Ernährung plädieren Sie dagegen?
Eine mit persönlicher Ansprache, die alle bekannten Unverträglichkeiten berücksichtigt. Basierend auf einem Risikoprofil – diese sind für eine Reihe von ernährungsmitbedingten Erkrankungen etabliert – sollte eine solche Ernährung eine möglichst vielseitige Lebensmittelauswahl bieten. Und sie muss die Nahrungsmittel beziehungsweise Produkte beinhalten, die gemocht werden und solche ausgrenzen, die der Konsument nicht mag. Darüber hinaus kann man testen, welche besonderen Stoffwechselantworten ein Mensch zeigt und wie sein Nährstoffversorgungszustand ist.
Wer bietet in Ihren Augen bereits sinnvolle Lösungen dafür an?
Habit als Ausgründung von Campbell Soup hat meines Erachtens das zur Zeit am weitesten fortgeschrittene Angebot für personalisierte Ernährung. Das aus Oakland stammende Nutrition-Start-up bietet Ernährungspläne und Menüs – man braucht nur 299 Dollar und nimmt sich selbst eine Blutprobe ab, die man dann einschickt. Auch Bluetooth-gesteuerte Blutzuckermessgeräte funktionieren erstaunlich gut. Eigentlich sind sie ja für Diabetiker gedacht, aber sie wecken bei Gesunden ebenfalls eine gewisse Sensibilität für das Thema. Wer einmal gesehen hat, wie der Blutzuckerspiegel nach einem Glas Apfelsaft oder einer Cola in die Höhe schnellt, wird nachdenklich – Bio-Feedback als Aha-Erlebnis.
Blicken Sie doch mal in die Zukunft – wie individuell wird die Ernährung 2030 sein?
Ich rechne mit einer gigantischen Bandbreite, schon allein, weil sich die Gesellschaft und damit die Konsumenten immer stärker fragmentieren. Es wird die High-End-Zielgruppe geben, die genug Geld hat, um sich jeden Tag individuell optimierte Mahlzeiten zusammenstellen zu lassen, und auf der anderen Seite weiterhin diejenigen, denen das alles völlig egal ist.
lz 48-18
Das Gespräch führte Christiane Düthmann.
Quelle:
Lebensmittel Zeitung. 11/30/2018, Issue 48, p134-134. 1p.
Autorin Düthmann, Christiane