15/10/2025
Auf der Internet-Seite des ZDF findet sich eine neue Sendung aus der Reihe "Terra Xplore" zum Thema ADHS. Unter dem Titel "Haben jetzt alle ADHS?" befasst sich der Beitrag mit der Popularität der ADHS in den Medien und Sozialen Netzwerken. Ist diese Präsenz ein Anzeichen dafür, dass die ADHS inzwischen zur Modekrankheit wurde?
"Terra X" ist eine Familienmarke des ZDF, unter der seit 1982 Reportagen unterschiedlichster Thematik ausgestrahlt werden. Seit 2021 gibt es den YouTube-Kanal "Terra Xplore", seit 2023 das gleichnamige Reportageformat, das von Leon Windscheid, einem Psychologen, präsentiert wird. In der Folge zur ADHS trifft Windscheid u.a. auf die Psychiaterin Prof. Dr. Philipsen, aktuell mit der ADHS omnipräsent auf allen Kanälen, den Psychologen Prof. Dr. Roth, der seit 2010 den Lehrstuhl für Differentielle Psychologie an der Universität Duisburg-Essen innehat, sowie die Moderatorin Lola Weippert, bei der 2023 die ADHS-Diagnose gestellt wurde.
In der Mitte der Sendung reihen sich ADHS-Betroffene an einer Art Zahlenstrahl aus LED-Röhren auf, die Zustimmung, Ablehnung und eine Menge dazwischen definieren. Dann sagt er Sätze wie "Durch die ADHS-Diagnose hat sich einiges in meinem Leben verändert" oder "Wenn man mich kennenlernt, merkt man relativ schnell, dass ich ADHS habe" oder "Ich bin entweder zu viel oder zu wenig, aber nie genau richtig". Eine Gruppe von ADHS-Betroffenen, verteilt über eine weite Spanne des Erwachsenenalters, positioniert sich jeweils so, wie die Aussage aus Sicht des Einzelnen für sie oder ihn zutrifft. In eingefügten Interview-Szenen gibt es dann ergänzende Aussagen der jeweiligen Betroffenen.
Das ist alles irgendwie nett, irgendwie authentisch, irgendwie informativ - und irgendwie bekannt. Keine schlechte Reportage, aber auch keine Antwort auf die Frage, warum die Welt nun von so vielen Sendungen über so viele ADHS-Betroffene heimgesucht wird, die alle in den letzten fünf Jahren die ADHS-Diagnose erhielten, natürlich keine Mode, allenfalls eine zufällige Häufung unerkannter Dramen der Kindheit, die jeden einzelnen zum intimen Experten nicht nur seines Lebens, sondern der ADHS an und für sich macht.
An einer Stelle sieht man Mutter und Sohn, sie 62, er 40 Jahre alt, und sie spricht über sich und den inzwischen großen Bub, der bereits als Kind die Diagnose erhalten hatte. Das ist rührend und befremdlich zugleich, als wäre er das Kind geblieben, das er war, doch die Störung, die ihm einst auf Betreiben seiner Mutter attestiert wurde, ist für die Mutter zum Vehikel der Selbsterkenntnis geworden. Ist diese Verschiebung vom Fremdurteil der Diagnose hin zur Selbstzuschreibung wirklich ein Gewinn für den Einzelnen und die Gesellschaft?
Für alle ADHS-Betroffenen, die in der Reportage auftreten, ist die Diagnose retrospektiv eine, nein »die« Erklärung für ihr Leben. Keiner sagt: "Scheiße, diese ADHS wollte ich nie haben!", weder tatsächlich, weil es dazu führte, dass ich mich als Kind so oft für mein Verhalten und mein Versagen schämte, noch als Diagnose, weil mir die ADHS keine Superpower verliehen hat und auch nicht zu einem besseren Menschen machte.
Wir haben für diesen Kommentar die Namen der Promis gegoogelt. Frau Prof. Philipsen kannten wir - nun ja - von ihren Forschungen zur ADHS und ihrer gegenwärtigen medialen Unvermeidbarkeit. (Nicht böse gemeint, aber im 30. Interview zum selben Thema sagt jeder mindestens das 25. Mal dasselbe, das ist irgend wann nicht mehr spannend.) Herrn Prof. Roth kannten wir nicht, obwohl er in den letzten zwei Jahrzehnten viel publizierte. (Vielleicht war "Social support as a mediator in the relation between sensation seeking [need for stimulation] and psychological adjustment in older adults" bislang nicht unser Thema - sollte es aber dringend sein.) Frau Weippert war uns gänzlich unbekannt, obwohl sie, wie wir auf Wikipedia lesen durften, eine Schwester [hat und] und in Berlin und auf einem Bauernhof in einem Dorf in der Niederlausitz" lebt. (Übrigens Frau Weippert und nicht ihre Schwester.)
In der Hirschhausen-Sendung über die ADHS vor ziemlich genau zwei Jahren war die spannendste Person der junge Mann, den Eckart von Hirschhausen im Gefängnis traf. Für ihn war die Diagnose tatsächlich ein Segen, denn er wollte nicht so sein, wie er war, nicht dort sein, wohin ihn sein impulsives Verhalten schließlich brachte. Ihm glaubt man, wenn er die positive Seite der ADHS benennt, da er die schlechte Seite bis zur Endstation Knast selbst erlebte. Er ist kein ADHS-Model auf dem Laufsteg pseudopsychologischer Selbstdarstellung, sondern jemand, der realistisch sieht, wohin ihn ADHS und Sozialisation gebracht haben. Vor diesem Hintergrund schaffen die von ihm benannten positiven Aspekte der ADHS einen ganz eigenen Sinn: mit derselben Energie und Leidenschaft, die einen ins Loch brachte, wieder aus dem Loch herauszukrabbeln.
Wem geht es bisweilen auch so, dass sie/er an ihre/seine eigene Kindheit zurückdenkt und sich fragt, ob man als Kind wirklich gewollt hätte, dass all der Unfug, den man machte, aber auch die gute Zeit, die man hatte, vor Ärzten, Psychologen und Therapeuten ausgeplaudert, analysiert und zerredet worden wäre?! Ist es jemandem in den Sinn gekommen, sich vor die Schulklasse oder die versammelten Eltern der Klassenkameraden anlässlich eines Schulfests auf die Bühne zu stellen, um mit Stolz über die eigene psychiatrische Diagnose zu sprechen?!
So richtig all das ist, was all die tatsächlichen oder vermeintlichen Experten über die ADHS sagen: Würden wir, wäre es nicht die ADHS und nicht der Autismus, sondern das nächtliche Bettnässen, das letzte Jahr, das wir depressiv und verwahrlost die meiste Zeit in unserer Wohnung verbrachten, oder den Suizidversuch, den wir aus dummer Verzweiflung und verzweifelter Dummheit begingen, uns öffentlich hinstellen und voller Stolz sagen "Ja, das bin ich, so sehe ich mich, das beschreibt mich, das erklärt mich"?! Sind wir so simpel und ist unser Leben so langweilig, dass eine Diagnose uns beschreibt und ein Störungsbild zu unserer Identität wird?!
Es geht hier nicht darum, ob ADHS oder Autismus komplexer sind als eine Enuresis nocturna, neurodiverser sind als eine Depression, mein Leben mehr bestimmen als der eine Kurzschluss-Moment, in dem ich versuchte, mir das Leben zu nehmen. Als hierzulande vor bald 40 Jahren die ersten Selbsthilfevereine von Familien mit hyperaktiven Kindern gegründet wurden, da geschah das, weil diese Kinder ständig bestraft und ausgegrenzt wurden, weil ihre Eltern sich vor Nachbarn und Lehrern schämten, obwohl - oder nachgerade: weil - sie wussten, dass es nicht an der Erziehung liegen konnte, dass Paul sich so anders verhielt im Vergleich mit seinem jüngeren Bruder Karl.
Viele Jahre hat die ADHS-Selbsthilfe dafür gekämpft, hinter der Verhaltensauffälligkeit das Kind zu sehen, nicht als unkonventionelles Genie oder unermüdlichen Leistungssportler, sondern als den wilden, chaotischen, für seine Umwelt oft anstrengenden Menschen, der dennoch unbedingt liebenswert ist. Wollten vor 30 Jahren erste Mitarbeiter bei Radio und Fernsehen eine Reportage über die "Hyperkinetische Störung" machen, wie die ADHS damals noch hieß, war es schwer, Familien zu finden, die bereit waren, sich interviewen und filmen zu lassen. Nicht die Diagnose war das Stigma, sondern die Auffälligkeit. Es war nicht recht, sie zu verstecken, aber es gab auch keinen Grund, darauf stolz zu sein, dass der Sohn keine Freunde hatte und trotz sehr guter Begabung kaum durch die Realschule kam.
Aus den meisten wilden Kindern dieser Zeit - aller Zeiten! - ist etwas "Gescheites" geworden, doch viele Eltern machten sich bis ins Erwachsenenalter große Sorgen, ob der Nachwuchs einst in der Lage sein würde, ein selbständiges Leben zu führen. Und keiner dachte daran, dass sich Paul später einmal auf einer Videoplattform im Internet ausgerechnet mit dem Verhalten einer beliebigen Öffentlichkeit präsentieren würde, das ihm damals so viel Ärger, Frust und Leid einbrachte. Am wenigsten Paul selbst.
Kaum ein Autist verhält sich wie Rain Man (und kann das, was Dustin Hoffmann in der Rolle des Raymond Babbitt kann), doch Michel aus Lönneberga und seine Familie sind so, wie man sich eine Familie mit einem hyperaktiven Kind vorstellen kann, vielleicht auch vorstellen möchte: Ein schwieriges Kind, für das die Dorfbewohner sammeln, um es nach Amerika zu schicken, das der Vater ständig verhauen will, an dem die Mutter bisweilen verzweifelt und an dessen gute Zukunft sie dennoch glaubt. Michel braucht diese Mutter und - so sah es zumindest Astrid Lindgren selbst, die in Michel aus Lönneberga ihrer eigenen Kindheit ein Denkmal setzte - auch diesen Vater. Michel wird später der beste Gemeinderatspräsident, den Lönneberga je hatte, so schreibt es die Autorin gleich zu Beginn des ersten Michel-Bandes. Das ist es, was Michel, den Lausejungen, ausmacht: dass er keine Sekunde über sein Leben jammert, auch wenn es manchmal hart ist, und sich der Herausforderung stellt, sich an eine Welt anzupassen und in eine Gemeinschaft einzufügen, die nicht immer und überall so sein kann und bleiben wird, wie er sich das als Kind vorstellt.
In Michel aus Lönneberga ist mehr ADHS drin - nicht nur dem Kind, sondern auch dem Erwachsenen, der sich in dieser Kinderfigur bereits abzeichnet - als in den meisten Reportagen über die ADHS! Man mag zurecht einwenden, dass dieses Bild die Nicht-Hyperaktiven, die Mädchen und Frauen vernachlässigt. Das stimmt. Aber es gibt auch wunderbare Darstellungen von Mädchen und Frauen mit AD(H)S wie z.B. im Spielfilm "Juno" aus dem Jahr 2007, in dem es überhaupt nicht um die ADHS geht. In der Serie "The Good Doctor" ist mehr Autismus drin als in allen vermeintlichen oder tatsächlichen Autismus-Selbstdarstellungen in den Sozialen Netzwerken. Vielleicht, weil ein talentierter Schauspieler das spielt, was ein wirklicher Autist niemals freiwillig vor Publikum zeigen würde.
Wir geben es zu: Wir haben längst zu viele Reportagen über die ADHS gesehen, um in den Menschen, die sie zeigen, noch mehr zu sehen als das Vorführen von Symptomen und die leider oft peinliche Identifikation mit einem psychiatrischen Störungsbild. Wir sind von den zahllosen Bekenntnisvideos auf Facebook, Instagram oder TikTok überfordert, weil wir nicht verstehen, warum man sich - mit oder ohne ADHS - auf diese Weise prostituiert. Wir verstehen aber, warum sich viele Betroffene und Angehörige in der ADHS-Selbsthilfe (aber auch im Bereich des Autismus) über viele Reportagen in den Medien, selbsternannte ADHS-Influencer und die Neurodiversitätswelle aufregen: Weil sie weder sich noch ihre Angehörigen in diesen meist harmlos-fröhlich-mitleidigen Darstellungen wiedererkennen, in der die ADHS eine Superkraft und der Autismus eine wunderbare Eigentümlichkeit sein sollen. Wir haben es anders erlebt.
https://www.zdf.de/reportagen/haben-jetzt-alle-adhs-terra-xplore-movie-100?fbclid=IwY2xjawNbFsVleHRuA2FlbQIxMABicmlkETFpbnlxSFF0azJxQjh2MVpDAR5KWKsLztVVUl8P3gyyw4ipeL-3pfUE3wa3D7DIptAF66U3ptyzWmTt9SlBXA_aem_DCNL_JMgOEP012GY6Cm8Bg