10/11/2025
DAS NÄCHTLICHE ABENTEUER
Vor langer Zeit lebte in Eisleben – in dem Patrizierhaus, das man Storchnest nennt und das jedem Bürger wohl bekannt ist – ein Gerichtsamtmann namens Otte. Er war von allen Seiten auf-grund seiner Redlichkeit geschätzt und für sein Wissen bewundert. In einer Nacht wachte Otte plötzlich auf, er hatte geträumt, dass eine gespenstische Kutsche vor seinem Haus hielt und sie ihn holen würden. Wie er sich nun den Schlaf aus den Augen wischte, atmete er auf. „Nur ein Traum“, sagte er zufrieden, als es draußen laut polterte. Eine Kutsche fuhr vor, das hörte man deutlich, blieb vorm Storchnest stehen und schon klopfte es am Tore. Mit wackligen Beinen ging er hinab, machte Licht und öffnete die schwere Eichentür. „Herr Gerichtsamtmann“, sagte eine dunkle Stimme eines noch dunkleren Mann, der sich mit seinen beiden Kumpanen an Otte vorbei in den Flur hineinschob. Bis an die Zähen bewaffnet waren die Männer, vermummt obendrein. Otte wollte schon um Hilfe schreien, doch wäre es sein Verderben. „Wenn ihr schreit, seid ihr tot“, flüsterte der Anführer, der den Gedanken wohl erkannte. „Kommt ihr mit, wie wir’s befehlen, geschieht euch nichts. Nehmt auch das Siegel mit, es gilt ein Testament zu machen!“
Otte war klug genug zu wissen, wann es jemand ernst meint, zog sich an, hängte sich sein Kruzifix um, ein altes Familienerbstück, das seit hunderten von Jahren jeden beschützte, der es trug und stieg in die Kutsche ein. Schon brauste sie los und aus dem Stadttor hinaus, was das letzte war, was er sehen konnte, denn hier wurden ihm die Augen verbunden. Etwa drei Stunden ging die Fahrt. Die Augenbinde nahm man ab und ließ ihn mitten in einem Wald aussteigen. Hatte sein letztes Stündlein geschlagen? Vor ihm knisterte ein Feuerchen, darum saßen fünfzehn schwer bewaffnete Männer, alle vermummt. Entgegen aller Erwartung grüßten sie ihn alle ehrerbietig und luden ihn zum Festschmaus ein. „Vor dem Gericht, ein Henkersschmaus“, sagte der Hauptmann der Bande und hieß der Amtmann sich neben ihn zu setzen. „Wenn ihr etwas von dem hier einer Menschenseele erzählt oder das aufschreibt, was ihr gleich seht, seid ihr des Todes. Schwört das Stillschweigen, wenn euch der Kopf auf dem Halse lieb ist!“ – „Ich schwöre“, hörte Otte sich sagen und sah sich wie von oben essen und trinken und dachte schon, das wäre sein Ende.
Doch nicht ihm galt das Gericht: ein Mansfelder Graf wurde geknebelt herbeigeschleppt, auf den Boden geworfen und seine Sühnetaten verlesen. „Herr Gerichtsamtmann, ihr seid belesen. Was steht auf solche Vergehen?“ – „Der Tod, Herr Hauptmann“, sagte Otte gewissenhaft und konnte nichts tun, außer ein Testament zu besiegeln, mit all den Räubern zu unterschreiben und zuzusehen, wie einer sein Schwert schwang und das Urteil vollzog. Dem Grafen war tot – so etwas war noch nie da und sollte nicht sein.
Am ganzen Körper zitternd setzten die Räuber den Amtmann wieder in die Kutsche, verbanden ihm die Augen und fuhren ihn nach Eisleben zurück. „Weh mir, wehe“, dachte der Amtmann und wusste, er war Gast eines Femgerichts gewesen. „War dieser Ort das wüste Volkmannrode, von dem man so viel hinter vorgehaltener Hand erzählte? Ganz sicher war es das!“ Tausend Gedanken schossen Otte durch den Kopf, bis die Kutsche vorm Storchnest hielt.
Wie man den Amtmann freundlich absetzte, ging gerade die Sonne auf. Die Räuber warfen ihm einen schweren Beutel mit Laubtalern in die Hand und mahnten: „Schweigen bis zum Grab, redet mit keiner Menschenseele!“
Wochenlang hütete Otte nach diesem Abenteuer das Bett und hielt wirklich Wort. Immer wenn er gefragt wurde, was in dieser Nacht vor sich ging, wurde sein Blick ganz ernst und er sagte: „Meinen Eid will ich halten und schweigen, aber lieber sterben, als solche Amtshandlung nochmal zu vollziehen!“ – Warum wir trotzdem von dem Ganzen wissen, ist einfach: Am letzten seiner Tage beichtete Otte alles dem „Kameraden Martin“ (eine überlebensgroße Figur in Eislebens Neustadt, unserem Roland vergleichbar), denn er hatte ja nur geschworen, es keiner Menschenseele zu sagen.
(aufgeschrieben von Carsten Kiehne nach Größler im neuen Buch "SAGENHAFTES EISLEBEN", erscheint nächsten Monat)
PS: SPONSOREN GESUCHT: Wenn du Lust hast, das Projekt "SAGENHAFTES EISLEBEN" zu unterstützen, kannst du das Werk gerne ab 50,-€ unterstützen. Dafür bekommst du einen Eintrag in die Dankesliste und eines der Bücher noch vor Weihnachten - handsigniert - zugeschickt. Danke für deine Unterstützung❣️
Wenn du gerne Sponsor wärst oder mehr Infos möchtest, gerne per PN oder Mail (carsten.kiehne@gmx.net)