09/12/2020
Da ich nun schon einige Pferde mit der Diagnose Shivering-Syndrom in Behandlung hatte und mir aktuell freundlicherweise Videomaterial zur Veranschaulichung zur Verfügung gestellt wurde, möchte ich euch nun kompakt einige Infos zusammenstellen.
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Das Shivering-Syndrom ist ein neuromuskuläres Krankheitsbild, zu Deutsch auch „Zitterkrankheit“. Die Pferde zeigen unwillkürliche Muskelbewegungen, die vor allem an den Hintergliedmaßen, seltener an der Vorhand und am Kopf zu beobachten sind. Die anfallsartigen und an bestimmte Bewegungen gekoppelten Muskelkrämpfe können kurzweilige Gleichgewichtsstörungen hervorrufen.
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Im Video seht ihr eine 8-jährige Hannoveranerstute, die schon seit mehreren Monaten eine derartig auffällige Hinterhandaktivität zeigt. Typischerweise zeigt die Stute ein ruckartiges, zitterndes Hochziehen der Hintergliedmaßen, v.a. linksseitig beim Hufe aufnehmen und beim Rückwärtsrichten, (Leider kann ich bei FB nur eines der Videos hochladen, die ich zur Verfügung habe). Beim Reiten, bei der Bodenarbeit oder auf der Koppel zeigen sich meist keinerlei Symptome. Es kommt lediglich in etwas abrupteren Übergängen und in engen Wendungen teilweise zum „Wegknicken“ der Hintergliedmaße. Die Diagnose Shivering wurde erst vor kurzem in einer Klinik gestellt.
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Es besteht in jedem Fall Verwechslungsgefahr. So auch in diesem Fall. Der erste Tierarzt, der sich der Auffälligkeit annahm, hat eine Kniebandläsion diagnostiziert. Kein Einzelfall, denn neben dem Hahnentritt und Kissing Spines ist es die häufigste Differentialdiagnose, vor allem zu Beginn der Krankheit.
Das mit entscheidendste Indiz für das Shivering-Syndrom ist das krampfartige Anziehen der Hintergliedmaße und ein zitterndes Verharren in der angezogenen Position, bis die Gliedmaße ganz langsam wieder abgesetzt wird. Dies ist eben, wie schon erwähnt, vorrangig beim Rückwärtsrichten und Hufe aufnehmen reproduzierbar.
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Bezüglich der Ursache oder der Entstehung der Erkrankung tappt man noch relativ im Dunkeln.
An der Universität Minnesota kamen Wissenschaftler 2015 in einer Studie zu dem Ergebnis, dass der Abbau von Nervenzellen im Kleinhirn verantwortlich sein könnte. Das Kleinhirn erfüllt wichtige Aufgaben bei der Steuerung der Motorik. In erster Linie ist es für einen flüssigen und harmonischen Bewegungsablauf zuständig und bestimmt maßgeblich Koordination und Feinabstimmung.
Die Ursache für den Abbau der Nervenzellen konnte jedoch noch nicht ermittelt werden, weshalb man bislang der Krankheit auch nicht vorbeugen kann und es noch keine medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten für eine Heilung gibt. Man nimmt an, dass häufige Stresssituationen, Traumata (Unfälle), Stoffwechselstörungen, Vitamin- oder Mineralienmängel, aber auch genetische Defekte die Krankheit begünstigen. Dies ist jedoch noch nicht evidenzbasiert.
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Die Diagnostik ist leider ebenfalls noch recht unspezifisch. Der Tierarzt hat die Möglichkeit in der Anamnese schon einige Infos bezüglich des Bewegungsverhaltens zu sammeln, weiterführend schaut er sich im Rahmen der klinischen Untersuchung das Exterieur des Pferdes sowie das Gangbild an und lässt die bereits o.g. auffälligen Bewegungsmuster ausführen.
Im Rahmen der Palpation (=Abtasten) kann er zusätzlich den Muskeltonus etc. checken.
Weitere Labordiagnostik oder neurologische Untersuchungen finden häufig nicht statt.
Es hat sich jedoch gezeigt, dass man mit einem EMG (Elektromyogramm) bei einigen Shivering-Pferden eine erhöhte Muskelaktivität im Ruhezustand feststellen konnte.
Nach neuesten Erkenntnissen empfiehlt es sich außerdem den Mineralstoffhaushalt und das Enzym Kreatinkinase unter die Lupe zu nehmen, um ggf. auf Mangelerscheinungen oder Stoffwechselstörungen Einfluss nehmen zu können, die möglicherweise das Shivering-Syndrom begünstigen.
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Da es bislang eben noch keine medikamentöse Therapiemöglichkeit gibt, kann man lediglich die Haltung und Fütterung anpassen.
Es hat sich gezeigt, dass eine kohlenhydratarme, aber fettreiche Fütterung (ungesättigte Fettsäuren) zu einer Linderung der Symptomatik führen kann. Ergänzend kann man je nach Laborbefund Selen, Vitamin E, Magnesium, B-Vitamine und Mangan zufüttern, um die Krämpfe abzumildern und den fortschreitenden Krankheitsverlauf etwas einzudämmen.
Das Pferd sollte im Idealfall 24/7 auf der Weide stehen und genügend Bewegungsfreiheit haben - so wünscht man es sich natürlich nicht nur für Shivering-Pferde. 😉
Außerdem sollte man für das Pferd stressige Ereignisse vermeiden. Ein Hufbeschlag sollte beispielsweise überdacht werden, wenn das Pferd sich auf drei Beinen ohnehin nur sparsam halten kann bzw. man die Krampfanfälle unnötig in die Länge zieht.
Grundsätzlich muss jeder Pferdebesitzer individuell entscheiden, was seinem Shivering-Pferd gut tut und was nicht. Dafür sind nur zwei wachsame Augen und ein logischer Verstand von Nöten. 🙃
Neben der adäquaten Fütterung und Haltung ist es wichtig den Trainingszustand des Pferdes aufrechtzuerhalten bzw. zu verbessern. Pferde sollten nach Möglichkeit unbedingt weiter gymnastiziert werden, denn durch die Erkrankung kann es auch schnell zu muskulären Dysbalancen kommen. Außerdem zeigen die allermeisten Pferde keinerlei Symptomatik in Vorwärtsbewegung, sodass man hier den reibungslosen Bewegungsablauf aufrecht erhalten und fördern sollte.
Es ist keine Option das Pferd so krank zu reden, dass man es lieber „stehen“ lässt. Vor allem
bei neurologischen Krankheitsbildern benötigt das Gehirn den nötigen Input. Pferde, die nicht genug beschäftigt werden bauen physisch und psychisch schneller ab. Übrigens genauso wie bei uns Menschen. 😅
Nun kommen wir auf meine Berufsgruppe zurück, denn neben einem angepassten Training können sowohl osteopathische als auch physiotherapeutische Techniken und Maßnahmen unterstützend wirken, um den Muskeltonus zu regulieren, Bewegungsabläufe zu harmonisieren und das Gleichgewicht des Pferdes zu verbessern. Hier ist es besonders hilfreich dem Besitzer genügend Griffe und Übungen mit an die Hand zu geben, um dem Pferd nachhaltig das Leben erleichtern zu können.
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Das war jetzt vielleicht doch nicht so kompakt wie gedacht, aber ein so komplexes und noch recht unerforschtes Krankheitsbild lässt sich nicht viel kürzer zusammenfassen.
Wer Interesse daran hat, hat auch bis zum Schluss gelesen. 😉 Wenn ihr Fragen bezüglich einiger Inhalte habt oder Interesse an einer Behandlung, schreibt mich gern an!