28/12/2019
Rückengänger vs. Schenkelgänger:
„Schenkelgänger“, das hört sich noch so nett und harmlos an. Doch für die Reitmeister vergangener Jahrhunderte war das nichts anderes als ein Schimpfwort für Pferde, die beim Reiten nicht über den Rücken gingen.
Die Einführung der Begriffe „Rückengänger“ und „Schenkelgänger“ wird Bernhard Hugo von Holleufer zugeschrieben, der im Jahr 1896 in zweiter Auflage das Buch „Die Bearbeitung des Reit- und Kutschpferdes zwischen den Pilaren“ veröffentlichte. Bernhard Hugo von Holleufer war Königlicher Stallmeister zu Hannover.
Er schrieb über die Rücken- und Schenkelgänger: „Die letzteren (Schenkelgänger, Anm. d. Redaktion) verrichten die Bewegungen ohne Mitgebrauch der Wirbelsäule, die Bewegungen sind hart oder gespannt, nicht raumgreifend, entweder übereilt oder träge, sie richten ihre Beine und die Reiter zugrunde, sie stehen entweder hinter dem Zügel oder liegen tot auf demselben und sind nicht zuverlässig im Gehorsam.“
Ganz anders sei hingegen der Rückengänger, schreibt Bernhard Hugo von Holleufer: „Die Rückengänger bedienen sich dagegen bei allen Bewegungen der Schwingungen nach vorn und nach unten: je kräftiger und spielender diese sind, je aktiver und raumgreifender, je weicher und elastischer, frischer und entschlossener sind die Bewegungen, die Pferd und Reiter gesund erhalten und das Erstere dem Letzteren in vollkommenem Gehorsam in die Hand spielen.“
Der Zweck der Pferdeausbildung war damit für von Holleufer ganz klar und eindeutig definiert, wie er schrieb: „Das ganze und einzige Ziel der sogenannten alten Reitkunst war und besteht noch: die geborenen Rückengänger zu konservieren, mäßige vermehrt auszubilden und reine Schenkelgänger zu Rückengängern umzuwandeln, denn sämtliche Lektionen und die sogenannten Hohen Schulen bezwecken nichts anderes, als das Pferd schwunghaft zu machen. Im Schwung aber liegt die Elastizität, und in der letzteren beruht die Schnelligkeit (Schnellkraft) und die Gewandtheit. Wenn es übrigens die Natur nicht für gut befunden hätte, dass die Wirbelsäule beweglich sein sollte, so würde sie dieselbe wohl nicht mit so vielen Gelenken ausgestattet haben.“
Wobei der letzte Satz wohl gerade an die Reiter gerichtet worden war, die „Schenkelgänger“ ritten. Diese Einteilung zwischen Rücken- und Schenkelgänger hat sich bis heute erhalten. Wobei mit dem Rückengänger immer das positiv über den Rücken gehende Pferd gemeint ist. Der Schenkelgänger dagegen ist derjenige Vierbeiner, der zwar exaltierte Spanntritte zeigt, aber nicht durch den ganzen Körper schwingt. (cls)
Lesetipps:
Bernhard Hugo von Holleufer: „Die Bearbeitung des Reit- und Kutschpferdes zwischen den Pilaren“, Nachdruck, Olms, 2000, (nur noch antiquarisch erhältlich)
Bertold Schirg: „Die Reitkunst im Spiegel ihrer Meister“, Band 1, Olms, 2011
(Quelle: https://dressur-studien.de/rueckengaenger_schenkelgaenger/)
von Dr. Thomas Ritter
„Ohne den Rücken geht gar nichts.“ In den letzten 20 Jahren wurde „der Rücken“ zu einem Schlagwort, das dem Sprecher einen gewissen Anschein der Kompetenz gibt – auch wenn er eigentlich gar nicht versteht, was es mit „dem Rücken“ auf sich hat. Als die Rollkur weltweit in Mode kam, stellte man eine einfache Gleichung auf: Kopf unten bedeutet „Rücken da“, Kopf hoch heißt „Rücken weg“. Das geht natürlich so nicht auf. Die Sachverhalte der Reitkunst sind eben immer etwas komplizierter, als man zunächst denkt, und lassen sich meist nicht auf simple Formeln reduzieren.
Dass der schwingende Rücken eine große Rolle für den Gang und die Gesunderhaltung des Pferdes spielt, war für die Entwicklung der Reitkunst vielleicht die bedeutendste Entdeckung des 19. Jahrhunderts. Bei den Autoren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie Ernst Friedrich Seidler, Louis Seeger oder Friedrich von Krane, taucht der Gedanke noch nicht auf. Die erste mir bekannte Quelle, die vom schwingenden Rücken spricht, ist Gustav Steinbrechts „Gymnasium des Pferdes“ (1884). Der Gedanke wird aufgegriffen und weiterentwickelt von seinem Schüler Paul Plinzner, B. H. von Holleuffer und Otto de la Croix, um nur einige zu nennen. Man unterscheidet seither sogenannte „Rückengänger“ und „Schenkelgänger“. In der Literatur des 20. Jahrhunderts wird die Wichtigkeit des schwingenden Rückens immer wieder betont, wobei die Bilddokumente der ersten Hälfte des Jahrhunderts nicht immer zu den Beschreibungen passen. Die Formel: Kopf unten = Rücken da oder Kopf oben = Rücken weg, geht nicht immer auf.
Ich habe die wesentlichen Merkmale, welche die Rückengänger von den Schenkelgängern unterscheiden, in einer Tabelle aufgelistet.
Ein wesentliches Merkmal des Rückengängers ist, dass alles an ihm rund erscheint. Es gibt keine Ecken und Kanten. Diese longitudinale Rundung der Wirbelsäule wird als Bascule bezeichnet. Die Oberlinie verläuft rund und fließend, genau wie die Bewegungen des Rückengängers. Der Schenkelgänger weist dagegen oft einen Bruch in der Oberlinie auf. Die Form des Halses passt nicht zu Rücken und Kruppe. Schenkelgänger haben manchmal einen falschen Knick in der Region des dritten Halswirbels, und auch der Übergang von der Brustwirbelsäule zur Halswirbelsäule am Widerrist sieht eckig aus.
Die Oberlinie des Rückengängers ist gedehnt, weil der Widerrist angehoben und das Genick fallen gelassen ist, sodass der Eindruck entsteht, der Widerrist komme dem Reiter entgegen, während die Ohren von ihm vorwärts-abwärts wegstrebten. Durch das Anheben des Widerrists sind auch die Muskeln vor dem Schulterblatt entwickelt, sodass die Halsmuskulatur an seinem Ansatz am breitesten ist. Nach oben, Richtung Genick, verjüngt sich die Halsmuskulatur.
Der Schenkelgänger mag vielleicht einen runden Hals haben, aber er ist eher verkürzt und eingerollt als gedehnt. Der Widerrist ist abgesackt, sodass der Hals an seiner Basis am schmalsten ist. Man sieht ein großes klaffendes Loch in der Halsmuskulatur vor dem Schulterblatt und dem Widerrist. Der dickste Teil der Halsmuskulatur liegt bei diesen Pferden meistens in der Mitte. Der Hals sieht dann aus wie eine Schlange, die ein Kaninchen verschluckt hat.
Das Becken des Rückengängers kippt mit seinem Unterrand nach vorn ab, sodass die Rücken- und Kruppenmuskulatur nach rückwärts-abwärts gedehnt wird, während die Oberhalsmuskulatur durch das Anheben des Widerrists vorwärts-aufwärts gedehnt wird. Durch dieses Abkippen des Beckens wird die Lendenwirbelsäule nach oben gerichtet und der Rücken kann sich aufwölben.
Die Kruppe des Schenkelgängers bleibt dagegen unbeweglich oder ist sogar in die entgegengesetzte Richtung gekippt, sodass die Lendenwirbelsäule nach unten durchhängt.
Der Rücken des Rückengängers schwingt elastisch auf und ab, und je nach Gangart, auch in seitlicher Richtung, sowie vorwärts und rückwärts (Schritt und Galopp). Der Rücken des Schenkelgängers ist hingegen steif, entweder nach unten oder nach oben (Rollkur) festgehalten.
In der Hinterhand des Rückengängers beteiligen sich alle Gelenke sichtbar an der Fortbewegung. Man hat den Eindruck, dass die Bewegung der Hinterbeine rund ist. Das einzelne Hinterbein wird hochgehoben, vorgesetzt und es fußt wieder auf. Man sieht deutlich die Bewegung der Hüft- und Kniegelenke.
Beim Schenkelgänger scheinen sich nur die unteren Gelenke der Hinterhand zu bewegen, während die Hüft- und Kniegelenke eher unbeteiligt bleiben. Die Bewegungen der Hinterbeine erscheinen entweder krampfhaft zuckend oder auch schlaff und schleppend. Das einzelne Hinterbein wird nicht deutlich angehoben und kraftvoll vorgesetzt, sondern es schleift eher flach und herunterhängend durch den Sand. Manchmal entsteht ein ähnlicher Eindruck wie bei einer Frau, die mit einem engen, knielangen Rock rennen möchte. Sie wird durch die Kleidung daran gehindert, ihre Hüften und Oberschenkel effektiv zu bewegen, und kann nur vom Kniegelenk abwärts laufen. Ich habe Schenkelgänger gesehen, die sich in ähnlicher Weise nur vom Sprunggelenk abwärts bewegten.
Der Rücken und die Hüft- und Kniegelenke sind die Stoßdämpfer des Pferdes. Die Gänge des Rückengängers sind lautlos, weil die Stoßdämpfer beim Auffußen keine harten Erschütterungen entstehen lassen, sondern auch im starken Trab oder Galopp alles weich abfedern. Je steifer das Pferd ist, desto lauter tritt es auf. Der Schenkelgänger lässt aufgrund seiner Steifheit unter Umständen den Boden erzittern unter seinen harten, schweren, trampelnden Tritten, wohingegen der Rückengänger sich wie eine Katze bewegt.
Aus dem bisher Gesagten lässt sich schließen, dass der Rückengänger bequem zu sitzen ist. Auch wenn er große Gänge mit hoher Amplitude besitzt, so nimmt der schwingende Rücken den Reiter doch mit und die geschmeidige Hankenbeugung erspart ihm harte Erschütterungen. Ganz anders dagegen der Schenkelgänger, bei dem der Reiter bei jedem Trabtritt und Galoppsprung das Gefühl hat, dass es ihm ins Kreuz fährt oder dass er einen Tritt in den Allerwertesten bekommt. In diesem Zusammenhang muss auch angemerkt werden, dass es keine „harten“ Sättel gibt. Wenn dem Reiter der Sattel hart und unbequem erscheint, dann liegt das an der Steifheit der Hinterhand und des Rückens seines Schenkelgängers. Einen weich gepolsterten Sattel zu kaufen löst nicht das eigentliche Problem, sondern verdeckt nur das Symptom. Auf einem Rückengänger fühlt sich jeder Sattel weich und bequem an.
Rückentätigkeit ist untrennbar mit Durchlässigkeit verbunden, und Durchlässigkeit ist das Resultat von Gleichgewicht und Geschmeidigkeit aller Gelenke im Pferdekörper. Dabei spielt vor allem die seitliche Biegsamkeit der Wirbelsäule, die Geschmeidigkeit des Schultergürtels sowie die seitliche und vertikale Beweglichkeit der Hinterhand eine Hauptrolle. Der Rückengänger ist in seinem ganzen Körper geschmeidig und elastisch, während der Schenkelgänger typischerweise im Genick und in den Hüften steif ist, was er durch eine übergroße Beweglichkeit am Halsansatz ausgleicht, sodass viele Reiter gar nicht fühlen, wie steif ihr Pferd eigentlich ist, da der falsche Knick im Halsansatz eine trügerische, unechte Weichheit vorspiegelt.
Der schwingende Rücken erlaubt dem Rückengänger, sich mit langen ruhigen Tritten fortzubewegen, während der Schenkelgänger zwar vielleicht seine Vorderbeine sehr hoch hebt, sie aber mangels Untertritt der Hinterbeine wieder zurückziehen muss und im Endeffekt kürzere Tritte macht. Die Tritte des Schenkelgängers sind hart und stoßend. Die daraus resultierende Erschütterung ist für das Pferd wie für den Reiter unangenehm. Der Schenkelgänger wird deshalb auch versuchen, die Schwebephase und damit auch die Trittlänge möglichst kurz zu halten, um die Erschütterungen zu minimieren.
Der Rückengänger wird also mit der gleichen Trittzahl eine größere Distanz zurücklegen beziehungsweise für die gleiche Distanz weniger Tritte benötigen. Seine Muskeln arbeiten miteinander statt gegeneinander, was Energie spart. Der Rückengänger wird also nicht so schnell ermüden wie der Schenkelgänger. Weiches, elastisches Auf- und Abfußen schont die Sehnen und Gelenke, während das harte, stoßende Auftreten Sehnen und Gelenke abnutzt. Es ist also ganz logisch, dass Rückengänger viel weniger anfällig für Arthrose und Sehnenverletzungen sind als Schenkelgänger. Auch für Kissing Spines sind die Schenkelgänger weitaus anfälliger als die Rückengänger. [..]
(Quelle https://www.feinehilfen.com/rueckengaenger-schenkelgaenger/)